Dirigent
blickte den schäbigen Flur entlang, mit all den an den Wänden lehnenden oder auf dem Boden hockenden Männern –»von diesem Chaos und allem, was daraus noch folgt, verschonen.«
»Ich glaube es auch. Wenigstes fürs Erste. Aber ich habe von anderen gehört, die ihre Stellung nicht dazu benutzt haben, besonderen Schutz zu bekommen. Mir ist, als sollte ich ihrem Beispiel folgen.« Es war untypisch für Elias, freiwillig etwas von sich preiszugeben, doch an diesem Tag war seine Zunge so unberechenbar wie seine Hände. »Unsere Musikerkollegen zum Beispiel. Einige unserer meistgeschätzten Kollegen haben nicht nur einmal, sondern mehrmals versucht, die Musterung zu bestehen. Ich finde das ... inspirierend.«
»Sie sprechen nicht zufällig von Schostakowitsch, oder?«
»Nun – er gehört auch dazu«, sagte Elias verlegen.
Nikolai runzelte die Stirn. »Ich halte sehr viel von Dmitri, und seine Musik ist bahnbrechend – aber ich weiß nicht, ob es man ihm nacheifern sollte. Er handelt ganz und gar nach seinen eigenen moralischen Prinzipien und tut seine selbstauferlegte Pflicht, ohne sich großartige Gedanken über die Konsequenzen zu machen.«
Elias blickte zu den hohen Fenstern auf, den zitternden Spinnenweben und dem Taubendreck auf dem staubigen Glas. Er schloss halb die Augen, weil die Sonne ihn blendete (er konnte nichts sehen, wollte nichts sehen). »Aber Schostakowitsch weiß so genau, was er will! Ich be-bewundere ihn. Ich vers-versuche ihn zu – «
Doch bevor sein Stottern noch schlimmer werden und Nikolai eine weitere seiner unerbetenen Meinungen äußern konnte, kam ein Sachbearbeiter mit bleistiftdünnem Oberlippenbart auf sie zu. Herr Eliasberg, verkündete er, habe ein Emphysem im linken Lungenflügel und den Tauglichkeitsgrad 4 erhalten, was bedeute, dass man ihn in absehbarer Zeit nicht zum Militärdienst einberufen würde.
Immer noch stammelnd, dankte Elias dem Mann und verabschiedete sich von Nikolai; dann taumelte er aus dem Gebäude. Die Wärme des späten Nachmittags überspülte ihn, die Luft fühlte sich wie Seide an. Er lehntesich gegen eine Steinbrüstung, bis seine Beine wieder kräftig genug schienen, ihn zu tragen. Auf der Straße angelangt, gewann er seine übliche Fassung wieder, doch er bewegte sich wie befreit, und seine Erleichterung war so groß, dass er leise zu pfeifen begann. Er hörte erst wieder damit auf, als ihm einfiel, dass er sich in diesem Moment zwar fühlen mochte, als wäre der Krieg vorbei – das Schlimmste jedoch stand noch bevor.
Der Marsch
Den ganzen Tag lang hatte der Himmel ausgesehen wie die Erde. Am Morgen hatten sich die Wolken in adretten, wellenförmigen Linien aneinandergereiht, die ihm die Anmutung eines frisch gepflügten Feldes gaben. Gegen Nachmittag schoben sie sich zusammen, bis sie einer endlosen grauen Sandfläche glichen. Die Welt, so schien es, stand Kopf.
Schostakowitsch blickte auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. Er erinnerte sich an seine erste Reise ans Meer. Er war fünf gewesen, kränklich, in mehrere Decken gewickelt. Damals musste Sommer gewesen sein wie jetzt. Durch einen Spalt im Wagen hatte er die Felder vor Flachs strotzen sehen, hatte die Samenschoten platzen hören, ihre Honigsüße gerochen. Als das Pferd plötzlich stehen geblieben war – vor einem Tor oder einer Furt –, hatte er würgen müssen, und ekliges, klumpiges Zeug war auf die Decken getropft. Er verträgt das Reisen nicht , hatte jemand gesagt und ihm mit einem Stück Papier, das ihn am Kinn kratzte, den Mund abgewischt. Dmitri war schon immer zart besaitet. Irgendwann war er aus dem Wagen gehoben worden, salzige Luft hatte ihm die Lungen durchgepustet und den Geruch von Pferdemist und den schweren gelben Heuduft weggeblasen. »Das Meer!«, hatte er geschrien – und seine Decken in den Sand geworfen, umauf den endlos weiten Ozean zuzulaufen. Glitzernd, menschenleer, erschien er ihm unvergleichlich einladender als die gemütliche Datscha hinter den Hügeln mit ihren rund geschnittenen Rosenbüschen, einem Krug Kornblumen auf dem Fenstersims und einem brodelnden Topf auf dem Feuer.
Neuerdings hatte er das Gefühl, das Meer aus den Augen verloren zu haben. Er hatte sich wieder in Decken wickeln lassen (institutionelle, familiäre Decken) und konnte jene gewaltige, unabdingbare Einsamkeit nicht mehr erreichen. Einsamkeit war wesentlich, aber nicht immer einfach zu haben. Er schrak zurück, wenn er an den vergangenen Abend zurückdachte (die
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