Dirigent
Erinnerung schmerzte weit mehr als die rötlichen Quaddeln an seinen Händen). »Ich arbeite, verdammt noch mal!«, hatte er gerufen. »Raus aus meinem Zimmer!«
Ninas Mund war kleiner und schmaler geworden, als könnte sie so auch die Dramatik, die ihren Mann stets umgab, zusammenpressen. » Dein Zimmer! Dein Haus, deine Kinder. Alles ist deins, bis es etwas von dir verlangt. Dann verschwindest du wie eine Schneeflocke im Feuer.«
Sie hatte recht. Das war ihm selbst inmitten seiner verzweifelten Sehnsucht, allein gelassen zu werden, bewusst gewesen. Wie geschickt sie seinen Charakter bloßlegte! So säuberlich, als nähme sie einen Fisch aus. Keine Zimperlichkeit oder Gnade – hinein mit der Klinge, und schon kamen die Innereien zum Vorschein. Ja, er bewunderte ihren Scharfsinn – trotzdem wünschte er, sie würde sich endlich aus seinem Arbeitszimmer verziehen.
Langsam, demonstrativ nahm sie ihre Bücher, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür.
Schostakowitsch beobachtete die Klinke; als sie ihre Ruhestellung erreicht hatte, klickte es. Das Geräusch riegelte ihn ab und befreite ihn zugleich.
»Endlich allein«, sagte er laut genug, dass Nina es hören konnte. »Endlich allein!« Sie verstand doch dieGründe für seine dringenden Forderungen – warum musste er immer wieder um seine Rechte kämpfen?
Und so hatte er, unter dem zusätzlichen Druck, sein Verhalten rechtfertigen zu müssen, die ganze Nacht komponiert und war mit schweren Lidern und einem bereits unerträglich ermatteten Körper zur Arbeit bei der Bürgerwehr erschienen.
»Sie sehen müde aus«, sagte Boris Trauberg, der einfältige Pianist, dessen Berufung ans Konservatorium Sollertinski und er selbst nicht befürwortet hatten. Schostakowitsch hatte in den letzten zwanzig Minuten kraftlos an den Seiten des Schützengrabens herumgestochert, heftig schwitzend und ohne voranzukommen. »Kein Wunder, dass Sie erschöpft sind. Gräben ausheben ist keine Beschäftigung für Männer wie uns.«
Schostakowitsch spuckte auf eine Schwiele, die sich an seiner Hand bildete, und sah in Boris’ glänzendes Gesicht. Er wurde nicht gern auf die gleiche Stufe gestellt wie eine Kröte, auch nicht von der Kröte selbst. »Ich habe letzte Nacht gearbeitet. Wenn ich müde aussehe, dann deshalb, weil ich nur ein paar Stunden geschlafen habe.«
»Gearbeitet?« Boris wirkte verstimmt, als hätte er gehofft, der Krieg würde alle Unterschiede einebnen. »Können wir also mit einem neuen Schlager fürs Volk rechnen – einer neuen Nationalhymne vielleicht sogar?« Er schloss die Augen und summte, ziemlich unschön, ein paar Takte der Internationale.
»Ich glaube, unser Führer ist mit der jetzigen sehr zufrieden«, antwortete Schostakowitsch. »Bis er eine neue in Auftrag gibt, werde ich an meinen eigenen Kompositionen weiterarbeiten. Von denen –« er beugte sich über seinen Spaten, als verdiente die Kröte Boris seinen Respekt – »von denen ich aus Gründen des Aberglaubens nicht sprechen kann. Das verstehen Sie sicher, woran auch immer Sie selbst gerade arbeiten.« Wissend, dass Boris über so viel künstlerisches Talent verfügte wie einervon Sollertinskis Möpsen, wartete er interessiert auf dessen Antwort.
Boris beäugte ihn argwöhnisch. »Ich bleibe in Übung, falls es das ist, worauf Sie anspielen. Alles andere wäre töricht. Wir machen diese Eselsarbeit ja nur so lange, bis Vorkehrungen getroffen sind, uns auszufliegen.«
»Ich bin überrascht, dass Sie es derart eilig haben, die Stadt zu verlassen, die Ihnen so große Chancen bietet. Immerhin wurzelt Ihre professionelle Karriere im hiesigen Konservatorium, und Ihre Zukunft gedeiht auf Leningrads Boden.« Wozu nicht unerheblich beiträgt , hätte er am liebsten hinzugefügt, dass Sie ein entfernter Vetter des Kulturministers sind.
»Ich verlasse ja nicht das Konservatorium.« Boris schürzte seine gummiartigen Lippen. »Im Augenblick grabe ich sogar für das Konservatorium, und bald werde ich mit ihm evakuiert.«
»Das Konservatorium wird bleiben«, sagte Schostakowitsch. »Musiker und Komponisten kommen und gehen. Aber das Konservatorium wird in seiner Beständigkeit und Größe weiterleben – genauso, kann man nur hoffen, wie Mütterchen Russland.« Er sprach so sarkastisch, wie er es sich traute. Gegen die Berufung der Kröte zu stimmen war, wenn man den Status besagten Vetters dritten Grades berücksichtigte, riskant genug gewesen. Die bloße Anspielung, die Rote Armee könnte im Nachteil
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