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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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wiederkommen, wenn Sie mir beweisen können, dass Ihr Eifer Ihrer Berufung entspricht.« Er war versucht, den Arzt wissen zu lassen, dass er insgesamt für einhundertsechs Musiker verantwortlich war.
    »Ich muss gehen.« Es klang, als hätte der Arzt das Interesse an Elias und dessen Beruf, der nur in Friedenszeiten wichtig war, verloren. »Draußen warten noch weitere fünfunddreißig Männer auf ihre Untersuchung.«
    »Und jetzt?« Unsinnigerweise fühlte Elias sich im Stich gelassen.
    »Man wird Ihre Daten auswerten und Ihnen die Ergebnisse nach Möglichkeit mitteilen, bevor Sie das Krankenhaus verlassen.«
    Zu spät begriff Elias, dass auf dem Blatt Papier in der Linken des Arztes seine Zukunft verzeichnet war. »Könnten Sie mir sagen –«, begann er. Doch der Arzt war schon fort, unterwegs zu den fünfunddreißig wartenden Männern oder vielleicht zu einem Teller Kohlsuppe in der Krankenhauskantine.
    Elias sank auf den harten Holzstuhl und verfluchte seinen Stolz. Warum verprellte er die Menschen immer, ganzgleich, wie freundlich sie zu ihm waren? Er war so furchtbar schnell beleidigt, selbst wenn der andere ihm gar nichts Böses wollte. Und nun hatte er auch noch sein Hemd falsch geknöpft, sodass die Hemdschöße ihm ungleichmäßig über die Knie hingen. Mechanisch machte er die Knöpfe wieder auf.
    »Karl Iljitsch Eliasberg?« Eine korpulente Krankenschwester lugte um die Stellwand.
    »Ja, der bin ich!« Er sprang hoch und kreuzte die Arme vor der nackten Brust.
    Sie sah ihn kaum an. »Sie sollen im Hauptflur warten. Die Amtsärzte werden Ihren Fall begutachten und Sie rufen, wenn sie zu einem Urteil gelangt sind.«
    Ungeschickt und hastig, mit wehendem Schlips, eilte er hinter ihr her. »Können Sie mir sagen, ob ich bestanden habe?« Ihn schauderte, sowohl vor seinem schmeichlerischen Ton als auch vor seiner Wortwahl. Du hoffst hier doch nicht auf Spitzenergebnisse in einem Kompositionsexamen, du Trottel! Im Gegenteil, wenn er diesen Test »bestand«, wäre die Belohnung ein Gewehr in seinen Händen, Stiefel an den Füßen und ein Ausmaß an Angst, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.
    Trotzdem lief er der Krankenschwester nach wie ein Kind.
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Ihre Füße klatschten auf den rissigen Boden. »Aber nach allem, was ich so gesehen und gehört habe« – sie drückte die Tür auf –, »taugen Sie zu kaum etwas.« Und damit traten sie auf einen Flur voller Männer hinaus, von denen viele sich nach der respekteinflößenden Krankenschwester und dem halb angekleideten bebrillten Schwächling in ihrem Schlepptau umdrehten. »Ich kann es Ihnen nicht sagen«, wiederholte sie und ließ den Blick über den Flur schweifen. »Das ist nicht meine Aufgabe.«
    Elias trottete bis ans Ende des Flurs. Er hielt den Kopf gesenkt, war jedoch überzeugt, dass alle ihn mitleidigansahen. Der Krieg hatte die kleine sichere Leningrader Welt aufgesprengt, aber sonst hatte sich nichts verändert. Die Augen fest auf den Boden geheftet, konzentrierte er sich auf kleine Verrichtungen: band seinen Schlips neu, klappte seinen Hemdkragen herunter. Bald verschwammen die Gesprächsfetzen, das Aufrufen von Namen und das Knallen der Schwingtüren zu einem schlammigen Grauton, der beinahe etwas Friedliches hatte.
    Nach einer langen Weile wurde sein Name aufgerufen. Sein Herz stolperte und schlug dann, aus dem Takt geraten, weiter. Er zwang sich aufzublicken – und sah ein bärtiges Gesicht, müde Augen, einen leicht schmuddeligen Kragen. Es war Nikolai.
    »Dachte ich’s mir doch, dass Sie das sind, hier am Ende der Schlange. Das ist ja eine Überraschung!«
    Elias atmete aus. »Ja, ich fürchte, ich bin es.«
    »Sie müssen sich doch nicht entschuldigen.« Nikolai schüttelte ihm die feuchte Hand. »Ich bin froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine Tortur dieser Tag bisher für mich war – schon bevor ich diesen finsteren Ort betreten habe.«
    Dümmlich stand Elias da und rüttelte an Nikolais Arm, als wollte er Wasser aus einem Brunnen pumpen. Es fiel ihm schwer loszulassen.
    »Sind Sie schon gemustert worden?« Beiläufig entzog Nikolai ihm seine Hand und wischte sie sich am Hosenboden ab.
    »Vor Stunden. So kommt es mir zumindest vor. Ich glaube, ich habe alles Zeitgefühl verloren.« Ob ihm deshalb so seltsam zumute war? Normalerweise konnte er die Uhrzeit auf die Minute genau schätzen.
    »Bestimmt wird man Sie aufgrund Ihrer Stellung von diesem –« Nikolai

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