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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Offizier gewandt. »Er hat bei mir studiert.« Schon verschwand Fleischmanns schmaler Rücken in der Ferne, die Schultern unter einer übergroßen Jacke durchgedrückt. »Einer meiner vielversprechenden Studenten«, fügte er hinzu. »Er arbeitet gerade an einer Oper.«
    »Mit Opern gewinnt man keinen Krieg.«
    »Damit, dass man unausgebildete, unbewaffnete Jungs an die Front schickt, auch nicht«, entgegnete Schostakowitsch wutentbrannt. »Sie kommen doch niemals lebend zurück. Sie sind todgeweiht, jeder Einzelne von ihnen.«
    Die Miene des Offiziers verhärtete sich. »Graben Sie gefälligst weiter! Und bis zum Abend sind Sie damit fertig, habe ich gesagt!« Er schritt zu den Männern hinüber, die in ihren Anzügen und adretten Lederschuhen neben den Büschen saßen, nahm Possochows Bücher hoch und warf sie in die Luft. Die blauen Umschläge breiteten sich aus wie Flügel, und ein paar lose Blätter fielen heraus, die der Offizier in den Staub trat.
    Niedergedrückt nahm Schostakowitsch seine Arbeit wieder auf. Seine mit Blasen übersäten Hände fühlten sich an, als würden sie gleich anfangen zu bluten.
    Plötzlich spürte er neben sich einen Luftzug. »Herr Schostakowitsch!« Es war Fleischmann, dessen normalerweise blasse Wangen rot gefleckt waren. »Ich kann nicht bleiben – sonst komme ich vors Kriegsgericht oder Schlimmeres.« Seine Hände zitterten, als er Schostakowitsch einen Haufen zerknittertes Papier an die Brust drückte. »Könnten Sie das für mich aufbewahren? Es ist noch nicht fertig, deshalb habe ich es mitgenommen. Ich dachte, ich würde vielleicht abends etwas Zeit haben –« Er hielt inne. »Aber als ich Sie hier sah, war das wie ein Fingerzeig. Könnten Sie darauf aufpassen, bis ich wiederkomme?Und vielleicht mal einen Blick darauf werfen?«
    Schostakowitsch ergriff Fleischmanns dünne Handgelenke. »Aber selbstverständlich. Im Namen von Tschechow und Fleischmann!«
    Verzweiflung huschte über Fleischmanns Gesicht. »Es tut mir leid, dass die Partitur in so einem furchtbaren Zustand ist. Und im zweiten Akt gibt es eine grässliche Arie, an der Sie sicher kein gutes Haar lassen werden. Denken Sie daran, es sind die ersten Versuche, und ich muss noch viel daran arbeiten, wenn ich ... falls ich –« Er wich zurück. »Ich muss die anderen einholen.«
    So schnell, wie er gekommen war, war er wieder fort, eine schlaksige Gestalt mit geflickten Stiefeln. Schostakowitsch setzte sich in den Graben und starrte auf die Noten: Hunderte davon, auf schiefen Linien, etliche hingekritzelte Regie-Anweisungen, Durchgestrichenes, Überschriebenes. Es war, als blickte man in ein Gehirn: eine Fülle durch jahrelanges Zuhören und Lernen angesammelter Informationen, halb verfolgter Fährten, halb entwickelter Motive.
    »Was haben Sie denn da?« Boris hatte sich angeschlichen. »› Rothschilds Geige‹. Was ist das?«
    »Das geht Sie nichts an«, sagte Schostakowitsch barsch, dabei war ihm zum Heulen zumute. »Und auch mich eigentlich nicht. Leider müssen wir aufgrund dieses Krieges allesamt Dinge tun, für die wir nicht annähernd qualifiziert sind.«
    Obwohl diese Bemerkung gar nicht auf ihn gemünzt war, schien Boris gekränkt. »Wir wissen alle, dass Sie ein Genie sind, Dmitri, während wir anderen bloß Kunsthandwerk betreiben. Aber wie wird uns Ihr kostbares Talent retten, wenn die Deutschen einmarschieren, unsere Frauen vergewaltigen und die Schädel unserer Kinder zertrümmern? Werden Ihre Sinfonien die Kugeln aufhalten, die bereits durch die Straßen von Moskau fliegen?«
    Schostakowitsch nahm seine Brille ab, sodass Boris’ Gesicht zu einem runden hautfarbenen Fleck verschwamm, und wischte sich den Staub aus den Augen. Er war im Begriff, ihm zu sagen, er solle sich wieder an die Arbeit machen, die einzige Arbeit, zu der er tauge – im Dreck herumwühlen. Doch während Boris’ Stimme auf ihn einhämmerte, schälte sich aus den Beleidigungen eine blecherne Melodie heraus. Er hatte sie gerade zu fassen bekommen (eine stumpfsinnig wiederkehrende Folge von Tönen, aber irgendetwas reizte ihn daran) und wollte sie sich einprägen, als Boris zu seinem Ärger verstummte.
    »Was sagten Sie eben?« Schostakowitsch wandte wie beiläufig den Blick ab. »Irgendetwas über meine wertlose Oper, ihre neurotische Qualität, ihr Übermaß an Noten? Aber Sie zitieren ja nur den berühmten Artikel aus der Prawda, Genosse. Haben Sie denn keine eigene Meinung?«
    Seine List funktionierte. Auf der Stelle legte

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