Dirigent
Gräben aus dem steinigen Boden. Ihre Gesichtshaut war rau geworden, ihr Haar spröde, als nähme ihr Körper die Eigenschaften der trockenen Erde an. »Wir waschen uns im Fluss«, sagte sie. »Manchmal müssen wir auf dem Feld kacken.« (Die Tanja von einst hätte sich im Leben nicht vor anderen ausgezogen oder ein Wort wie »kacken« benutzt. Nikolai hatte sie noch nie so sehr gemocht und bewundert.)
»Wenn Tante Tanja hier wäre, könnte sie das alles essen.« Ohne große Begeisterung beäugte Sonja die Speisen auf dem Tisch.
»Noch Kartoffelbrei? Morgen wirst du froh sein.« Er bereute seine Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte. Schnell klatschte er Sonja noch einen Löffel voll auf den Teller.
Sonja schnalzte mit der Zunge, so wie ihre Mutter es gemacht hatte, wenn sie sich ärgerte. »Da doch nicht!« Sie schob den Brei von ihrem mickrigen Stück zähem Schweinefleisch weg. »Die Kartoffeln gehören da hin.«
Jetzt erst fiel es Nikolai auf. Sonja hatte ihr Essen in einzelne, klar abgegrenzte Portionen aufgeteilt, sodass die Rote Bete nicht die Gurken färbte und der salzige Gurkensaft nicht in das Fleisch sickerte. Der Anblick beunruhigte ihn. Wie lange machte sie das schon? Seit seiner Musterung und der unklaren Einstufung (er war tauglich, konnte also kämpfen; er war aber auch ein geschätztes Mitglied der musikalischen Elite und daher nicht zum Kämpfen geeignet), fühlte er sich benebelter denn je.
Zum Nachtisch gab es Blaubeeren, die er im Tausch gegen eine Zuckerration von einer Sekretärin im Konservatorium bekommen hatte. »Sind Sie sicher, Professor Nikolajew?«, hatte sie ihn gefragt. »Sollten Sie nicht lieber an Nahrungsmittel denken, die lange vorhalten? Die Erinnerung an Blaubeeren wird kein großer Trost sein, wenn der Herbst kommt.« Ihre Hand verharrte über dem Zucker, während ihre gewisse spöttische Herablassung gegenüberunpraktischen Akademikern mit ihrem guten Herzen im Streit lag. »Haben Sie nicht ein Kind?«
»Ich habe eine Tochter«, sagte Nikolai. »Aber ich sorge seit neun Jahren für sie, und trotz meiner Nutzlosigkeit hat sie noch nie ohne Brot oder Kartoffeln auskommen müssen. Blaubeeren sind ihre Lieblingsspeise und im Moment sehr schwer zu bekommen. Danke.«
»Danken Sie meinem Neffen. Er ist derjenige, der sein Leben riskiert und die Kontrollstellen überwindet, um in die Wälder und wieder zurück zu gelangen.« Die Sekretärin war schnell zur Tür geeilt, bevor ihr besseres Ich die Oberhand gewinnen konnte.
Nikolai füllte die Beeren in Sonjas Lieblingsschale aus Kristallglas und trug sie mit schwungvoller Oberkellnergeste auf. »Für Fräulein Sonja Nikolajewska! Man hat die Küche davon in Kenntnis gesetzt, dass dies Ihre Lieblingsnachspeise ist.«
»Nein, danke.« Reserviert sah Sonja die Schale an. »Ich möchte keine.«
»Nein?« Nikolai versuchte die Beeren mit einem Löffel aufzulockern, zerdrückte sie aber stattdessen zu Mus. »Noch nicht mal, wenn es Beeren sind, die außerhalb der Stadt gepflückt und an vielen gierigen Soldaten vorbeigeschmuggelt wurden?«
»Nein. Aber trotzdem vielen Dank.« Wie ein Hotelgast legte Sonja ihre Serviette akkurat gefaltet auf ihr benutztes Besteck. Sie begutachtete Nikolais unbeholfene Bemühungen um Festlichkeit: die in einer Flasche steckende Kerze, eine von einer Fensterbank im Konservatorium gemopste Rose, die den Kopf hängen ließ. »Ich decke jetzt den Tisch ab«, sagte sie mit leicht gerunzelter Stirn.
Als das Geschirr gespült war, schlug sie ihm vor, er könne ja lesen, solange sie aufräume und Staub wische.
»Aber das hast du doch gestern Abend erst gemacht«, wandte er ein. »Es könnte hier nicht ordentlicher aussehen.« Das stimmte. Die hochlehnigen Stühle, der rechteckigeTisch, der Teewagen mit dem wenigen Geschirr darauf: Alles stand in einem exakten rechten Winkel zu den Wänden da. Die Kissen lagen symmetrisch auf dem Sofa, die Vorhangkordeln waren sauber verknotet. Selbst Nikolais ramponiertes Notenpult stand stramm.
»Es ist wichtig, es jeden Abend zu tun.« Sonja klopfte auf das Sofa, als lockte sie einen Hund herbei. »Setz dich hierhin, dann bist du nicht im Weg.«
Er tat so, als läse er die merklich dünnere Prawda, und beobachtete Sonja aus dem Augenwinkel. Es war etwas Seltsames daran, wie sie vorging, methodisch und doch ohne Logik. Sie staubte jedes Regalbrett einzeln ab, ging dann wieder zurück und wischte mit dem Lappen noch mehrmals darüber. Als sie sich den Barschrank
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