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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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den glänzenden Köpfen der Kulturelite. Sollertinski stand mitten im Raum. »Willkommen!«, rief er und bahnte sich einen Weg zu ihnen, nachdem er die schönen, an ihm hängenden Kirow-Mädchen wie Mücken abgeschüttelt hatte. »Nina Schostakowitsch, umwerfend wie immer, trotz der schlimmen Zeiten! Und selbst mein alter Freund Dmitri sieht elegant aus – auch wenn er sich den Matsch hätte von den Schuhen wischen können, bevor er das feinste Speise-Etablissement Russlands betritt.«
    »Schau dich doch selbst an«, konterte Schostakowitsch. »Ich frage mich, warum der Vorstand der Philharmonie einen Mann zum künstlerischen Direktor benannt hat, der nicht weiß, wie man sich einen Schlips richtig bindet.«
    »Wenigstens trage ich einen.« Sollertinski spähte zu dem lockeren kümmerlichen Knoten unter seinem Kinn hinab. »Was werde ich bloß ohne dich anfangen, Dmitri? Du bist der Einzige, der es wagt, mich zu kritisieren. Nun, dies ist womöglich unser letztes Mahl, also lass uns das Beste draus machen! Der Sevruga ist köstlich.«
    Alle drei schlängelten sich zwischen Frauen in schulterfreien raschelnden Seidenkleidern und Männern mit gestärkten weißen Hemdkragen hindurch. Schostakowitsch stiegen Parfümwolken in die Nase, und er musste niesen. Er stellte sich mit dem Rücken an eine Säule und beobachtete, wie Nina nickend und lachend um den Tisch ging. Sie schien absorbiert, doch dann und wann hob sie den Blick, um zu sehen, ob er noch in der Nähe war. War sie schon so gewesen, als sie sich kennenlernten – wachsam, ein wenig argwöhnisch? Er wusste es nicht mehr. Über die Jahre hatte er so viel zu tun gehabt, sich so unbedingt konzentrieren müssen; er hatte einfach weitergeschuftet und gehofft, sie würde noch da sein, wann immer er von seiner Arbeit aufsah.
    Der Gedanke an seine Unzulänglichkeiten als Ehemann und Vater weckte die üblichen Schuldgefühle in ihm. Ich möchte nicht mit mir verheiratet sein. Er drehte sich abrupt um und stieß mit der Frau neben sich zusammen. »Bitte entschuldigen Sie.« Er streckte die Hand aus, um sie zu aufzufangen. Es war Nina Bronnikowa, fast so groß wie er – und so schön wie an dem Tag, als sie zum Kirow-Ballett gekommen war.
    »Meine Schuld.« Ihre Haare waren eingedreht und hoch auf ihrem Kopf festgesteckt, was ihre Wangenknochen und den etwas melancholischen Zug um ihren Mund betonte. »Ich sollte nicht hinter Säulen herumlungern! Aber ich bin nicht in Feierstimmung und habe nichts, worüber ich plaudern könnte.«
    »Das ist kaum überraschend. Die außerehelichen Umtriebe der Intelligenzia sind weniger fesselnd, wenn man zugleich auf Flugzeuglärm horcht.«
    Sie zuckte die Schultern. »Ich habe mich noch nie für Klatsch interessiert, auch vor dem Krieg nicht.«
    »Ich auch nicht. Klatsch lenkt einen nur von der Arbeit ab. Ein guter Grund, solche Feste zu meiden.« Er blickte quer durch den Raum. Es war ein Fehler gewesen herzukommen. Hatte er denn aus der harten Arbeit an sechs Sinfonien und einer Oper gar nichts gelernt? Aus der Plackerei mit Sonaten und Konzerten, Quartetten und Quintetten, Liederzyklen, Ballettpartituren und Filmmusiken? Wie konnte er jedes Mal wieder vergessen, dass die ersten Stadien eines Werks seine permanente Aufmerksamkeit verlangten?
    »Apropos Arbeit«, sagte Nina Bronnikowa, »wann gehen Sie?«
    »Ich muss auf jeden Fall noch eine Weile bleiben.« Schostakowitsch nahm einen Schluck von seinem Wodka. »Sollertinski ist mein bester Freund. Und es hat meine Frau einige Mühe gekostet, mich hierherzuschleppen.«
    Nina Bronnikowa lachte. »Ich meinte nicht das Fest,sondern die Evakuierungspläne. Das Kirow-Ballett verlässt Leningrad binnen der nächsten Woche.«
    Er nahm noch einen Schluck Wodka, dessen stärkende Wirkung er schon spürte. »Ich gehe nicht weg. Ich habe vor, so lange wie möglich in Leningrad auszuharren. Wenn die Luftwaffe angreift, wird die Feuerwehr zusätzliche Freiwillige brauchen.«
    »Sie wollen bleiben und beim Brandschutz mithelfen?« Sie sah erstaunt aus. »Dürfen Sie das denn?«
    »Zuerst haben sie sich geweigert, mich Gräben schaufeln zu lassen. Aber mittlerweile mache ich das seit drei Wochen. Wie könnten sie zusätzliche helfende Hände ablehnen, wenn erst Brandbomben fallen?«
    »Ihre Hände sind ziemlich berühmt.«
    »Ich habe meinen eigenen Willen, selbst wenn der Staat Anspruch auf meine Hände und meinen Verstand erhebt.« Ausnahmsweise warf er keinen Blick über die Schulter, um zu

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