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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Irgendetwas!
    »Sind Sie«, stammelte er, »ähm, tanzen Sie noch?«
    Sie runzelte ein wenig die Stirn, und ihm rutschte das Herz in die Hose. War sie beim Kirow-Ballett gefeuert worden? Hatte sie die gefürchtete Vorladung bekommen und war zu Sagorski zitiert worden, wegen irgendeines eingebildeten Vergehens gegen den Staat? Aber der Ausbruch des Krieges hatte alldem doch sicher ein Ende bereitet, zumindest für den Moment! In seiner Verlegenheit öffnete er schon den Mund, um sich zu entschuldigen, da sagte Nina: »Leider macht meine Achillessehne mir zu schaffen. Selbst nach mehreren Wochen Pause ist sie noch nicht wieder ganz in Ordnung. Es ist furchtbar enttäuschend.«
    Erleichterung darüber, dass er sie nicht gekränkt hatte, Dankbarkeit, weil sie sich keinen offiziellen Tadel zugezogen hatte, Freude darüber, wie wichtig ihr das Tanzen war – all das stimmte Elias froh und übermütig, und er leerte leichtfertig sein Champagnerglas. »Ist das alles? Ich hatte viel Schlimmeres befürchtet.«
    »Das ist schlimm genug.« Jetzt wirkte sie doch gekränkt. »Ist Ihnen nicht klar, wie schwer es im Augenblick ist, medizinische Hilfe zu finden? Alle Ärzte sind damit beschäftigt, Rekruten zu untersuchen, die an die Front geschickt werden sollen, oder sie wieder zusammenzuflicken, wenn sie auf Tragen von dort zurückkommen. Eine schwache Achillessehne hat zurzeit in Leningrad keine Priorität.«
    »Ich wollte Ihre Verletzung nicht bagatellisieren«, versicherte er ihr. »Glauben Sie mir, ich weiß, wie es ist, von der Arbeit abgehalten zu werden. Nach ganz oben zu streben, aber nicht die Mittel zu haben, dorthin zu gelangen.« Während er sprach, war er sich der Anwesenheit der Männer hinter sich auf dem Podium sehr bewusst: Sollertinski, rotzfrech und klüger als alle anderen; Mrawinski, der sich mit der Unbekümmertheit des Auserwählten auf seinem Stuhl lümmelte; Schostakowitsch, dessen langfingrige Hände eine Magie entfalten konnten, an die Elias niemals heranreichen würde.
    »Sie haben natürlich recht«, sagte Nina. »Eine solche Verletzung ist nichts im Vergleich dazu, was sich um uns herum zusammenbraut. Aber die Arbeit ist meine letzte Zuflucht, und ohne sie auszukommen erscheint mir fast unerträglich. Ich habe dann nichts, um dieses ganze Chaos auszublenden. Aufgerissene Gärten, Sirenen, Erinnerungen an die Vergangenheit – ganz zu schweigen von der Angst davor, was uns allen noch blüht.«
    »Das verstehe ich gut«, sagte Elias heiser. »Für mich bedeutet die Arbeit dasselbe.« Er scheute sich, das ganze Ausmaß seiner erbitterten Arbeitsgewohnheiten zu bekennen. Dass er, wenn er über einer Partitur saß, die Rufe seiner Mutter ignorierte, weil er es nicht aushielt, schon wieder abgelenkt zu werden. Dass er sich taub stellte und entschlossener denn je weiterkritzelte, etwa um die neunundfünfzig Motive aus der Elektra herauszuschreiben und ihre verschiedenen Tonarten aufzulisten. »Von Strauss gerettet«,murmelte er, wenn er schließlich aus der Versenkung auftauchte – doch sobald er zur Tür schlich, um nach seiner Mutter zu schauen, wurde seine Erleichterung von heftigen Schuldgefühlen eingeholt.
    Er starrte Nina Bronnikowa an. »Sie sollten nicht mit mir sprechen. Ich bin es nicht wert. Ich bin nur ein gemeiner Borkenkäfer.«
    Aber die Musik war lauter geworden. Schostakowitschs Kompositionsassistent Israel Finkelstein war aufs Podium gehievt worden und hämmerte eine wilde improvisierte Polka in die Tasten.
    »Was haben Sie gesagt?« Nina beugte sich zu ihm vor, und ein zarter Lilienduft wehte ihm in die Nase.
    Doch der Moment der Vertraulichkeiten war vorüber. In Elias’ Innerem schloss sich etwas wie eine vom Wind zugeschlagene Tür. »Nur«, log er, »dass ich hier nicht viele kenne.«
    »Was ist mit Ihren Musikern? Sind sie nicht da?«
    »Ein paar schon.« Er sah sich um. »Aber wir sind in den letzten Wochen sehr dezimiert worden. Einige sind an die Front gezogen, andere sind zu erschöpft, weil sie zwölf Stunden am Tag Gräben schaufeln müssen. Wir haben nicht so viel Glück wie die Philharmoniker. Man betrachtet uns nicht als nationalen Schatz.«
    »Können Sie denn weiterproben?« Nina sah ihm voller Anteilnahme in die Augen. »Sie machen sich doch sicher Sorgen, wenn Sie an die Herbstsaison denken.«
    Elias blickte zu Boden; seine Augen brannten. Niemand – keine Menschenseele – hatte ihn bisher gefragt, wie ihm beim Anblick seines zusehends zersplitternden Orchesters

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