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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Haar ihres Porzellankopfes war kurz geschnitten worden – so kurz, dass hier und da das nackte weiße Porzellan zu sehen war. Er wandte sich zu den Spielsachen um, die an der Wand aufgereiht waren. Jeder einzelnen ihrer geliebten Puppen hatte Sonja das Haar abgeschnitten. Neben der letzten geschorenen Puppe lag eine säuberlich zugeheftete Papiertüte. In kleinen Blockbuchstaben stand darauf: HAARE. BITTE WEGWERFEN.
    Die Tüte ans Herz gedrückt, als enthielte sie irgendeine letzte Erklärung, stolperte er zum Fenster. Die Sonne fiel auf den bronzenen Wetterhahn gegenüber und wurde durch die Glasscheibe zurückgespiegelt. Er beschirmte sich die Augen und zog die Jalousie herunter, sodass das Zimmer im Halbdunkel versank. Dann legte er sich auf Sonjas Bett und zog die Knie an die Brust wie ein Sterbender.
    Wie hatte er übersehen können, was los war? Ihm fielen Begebenheiten aus den vergangenen Wochen ein. Wie Sonja den Schlüssel mehrmals im Schloss herumdrehte und dann noch einmal die Treppe hinauflief, um zu prüfen, ob die Tür auch wirklich abgeschlossen war. Wie sie in einer Art Krebsgang die Straßen hinuntergelaufen war, alle zehn Meter einen Zaun oder ein Geländer berührend. Wie sie darauf bestand, den Kanal an jeder zweiten Brücke zu überqueren, selbst wenn diese teilweise mit Holz und Stacheldraht versperrt war. »Hier können wir nicht rüber«, hatte Nikolai eingewandt, als er die Befestigungen auf der Brücke über den Gribojedow-Kanal sah. »Müssen wir aber«, hatte sie gesagt. »Wir müssen bis zur übernächsten Brücke auf der anderen Kanalseite gehen und dann wieder rüberwechseln.«
    Er krampfte die Faust unter dem Kissen zusammen, als er an den großen, chaotischen Haushalt der Ustwolskajas in Pskow dachte. Vier Vettern und Cousinen unter zehn, die durchs Leben tobten, Geschirr zerdepperten, auf Stühlen herumhüpften, ihre Sachen durcheinanderwarfen. Wie würde es Sonja dort ergehen, die mit ihren zwanghaften Ritualen und akribisch entwickelten Mechanismen eine unkontrollierbare Welt zu kontrollieren versuchte?
    »Sonja, vergib mir«, flüsterte er. »Bitte vergib mir.«
    Im Wohnzimmer schnarrte die Uhr. Mit jeder Minute beschrieben die Kolben einer Eisenbahn nicht endende hämmernde Kreise und trugen sie weiter fort von Leningrad, fort von ihrem Zuhause und ihrer selbstgeschaffenen Sicherheit. Von der Straße kamen die hektischen Geräuscheeiner Stadt, die sich für den Krieg rüstete; neben der Schlafzimmertür lag der lange stille Körper des Cellos. Nikolai schloss die Augen, doch Tränen stahlen sich unter den Lidern hervor und liefen heiß und schwer auf Sonjas Kissen.
Ins Rampenlicht
    Elias ging den ganzen Newski-Prospekt hinunter, ohne auch nur einmal anzuhalten. Schwere Panzer rumpelten über die geflickten Straßen, Anweisungen tönten aus den an Häuserecken angebrachten Lautsprechern, Verteidigungstruppen strömten durch das Stadtzentrum. Doch Elias fühlte sich zugleich unberührt und unberührbar, von einem brandneuen Selbstbewusstsein beschützt.
    Fühlten andere Menschen sich immer so? Das war ja wundervoll! Die Sonne von der brünierten Stahlkuppel der Kasaner Kathedrale abstrahlen zu sehen und nicht zusammenzuzucken; an einer Gruppe Männer vorbeizugehen und nicht nach Spott in ihren Augen zu suchen. Ich bin normal , dachte er, und sein Herz tat einen Sprung. Obwohl er sich bemühte, nicht zu pfeifen, entschlüpften ihm hier und da ein paar Takte der Eroica.
    Es war ja schließlich niemand gestorben . Niemand war mitten in der Nacht von Schergen aus seinem Haus gezerrt oder in seinem Bett von deutschen Soldaten erdolcht worden. Nur nach Sibirien schickte man sie, was viele als ein Glück betrachten würden –
    Doch wenn er ganz ehrlich war, fühlte er selbst sich wie derjenige, der Glück gehabt hatte. Leningrad schien ihm zu gehören, ein Empfinden, das er so noch nie zuvor gehabt hatte. Wenn nur sein Vater noch leben würde und ihn jetzt sehen könnte, wie er die großartigsten Straßen von Russlands kulturvollster Stadt entlangschritt, ja mannhaft entlangmarschierte, den ganzen Weg bis zum Eingang des Rundfunkhauses wie im siebten Himmel.
    Ein paar Orchestermitglieder waren schon im Probenraum, ihre Instrumente an Stühle gelehnt. Sie nickten, als er hereinkam – doch niemand schien den Schein um seinen Kopf zu bemerken noch zu erkennen, dass er, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten, ein mutigerer und unabkömmlicherer Mensch geworden war. Er klatschte seine

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