Dirigent
Aktentasche auf den Tisch, schmiss die Jacke über den Stuhl und wartete ungeduldig auf eine gute Gelegenheit, sich ins Gespräch einzuschalten.
»Haben Sie schon das Neueste gehört?«, platzte er heraus.
»Was sollen wir gehört haben? Dieser Tage scheint ja jede Minute etwas Wichtiges zu passieren.« Andrej Cholodow war ein stiller Mann, dessen herabhängender Schnurrbart ihn stets schwermütig wirken ließ, selbst wenn er lächelte. Heute allerdings lächelte er nicht. Er hielt seine Klarinette an die Brust gedrückt, während er erzählte, was er selbst Neues wusste: dass seine jüdischen Nachbarn an diesem Morgen verhaftet worden waren. »Sogar die Kinder haben sie mitgenommen. Und wissen Sie, welches Verbrechen man ihnen anlastet?«
Elias biss sich auf die Lippe. Dies war nicht die erfreuliche Szene, die er sich ausgemalt hatte. »Welches denn?«, fragte er nervös.
»Sie hatten Evakuierungsanträge gestellt, aus Angst davor, was die Nazis ihnen antun könnten. Und nun haben unsere eigenen Leute sie geschasst. Sie hätten das Gerücht verbreitet, dass die Deutschen uns besiegen würden; also ab ins Gefängnis mit ihnen.«
Elias’ wohlige Gefühle wichen allmählich von ihm. »Die Kinder auch? Ich dachte, alle Leningrader Kinder würden in Sicherheit gebracht.«
»Die Juden taugen als Sündenböcke für alle. Schuldig im Sinne der Anklage, von der Wiege bis zur Bahre.« Cholodow nahm das Blatt von seiner Klarinette und legte es sich auf die Zunge, als wollte er nicht länger über dasSchicksal der acht Jahre alten Irene sprechen, der er erst kürzlich beigebracht hatte, die C-Dur-Tonleiter zu spielen, ohne dass es quietschte.
Der Raum füllte sich langsam, doch die Atmosphäre war gedrückt. Kurz erwog Elias, mit seiner Neuigkeit hinter dem Berg zu halten. Er öffnete seine Mappe, raschelte mit Papieren, räusperte sich. Doch seine Erregtheit gewann die Oberhand. »Ich habe ebenfalls Neuigkeiten«, sagte er laut. »Aber nicht von bedauernswerten Juden oder amtlichen Fehlurteilen. Meine Neuigkeiten haben mit unserem Freund Mrawinski und seinem Philharmonischen Orchester zu tun.«
Ausdruckslose Gesichter wandten sich ihm zu. Das einzige Geräusch war das Summen einer Fliege an der Fensterscheibe. »Die ganze Philharmonie wird nach Sibirien evakuiert.« Er bemühte sich, diese Nachricht schwungvoll vorzubringen. »Das bedeutet, dass das Rundfunkorchester von jetzt an das kulturelle Rückgrat Leningrads ist. Wir werden die Herbstsaison allein bestreiten!«
Von der Tür kam ein höhnisches Lachen. Elias erstarrte; er brauchte sich nicht umzudrehen.
»Das betrachten Sie als Privileg ?« Alexander torkelte in den Raum. Es war noch nicht zwölf, doch die Wodkaausdünstungen waren untrüglich. »Wir werden wie die Ratten in die Enge getrieben! In Leningrad zurückgelassen, um mit unserer Musik die Moral zu heben, während Mrawinski und seine Truppe irgendwo Däumchen drehen und nur darauf warten, unsere Plätze einzunehmen, nachdem wir auf den Straßen niedergemetzelt worden sind. Was für ein großartiges Privileg!«
Elias versuchte Ruhe zu bewahren. »Wir sind seit zehn Jahren die zweite Garnitur. Wollen Sie das wirklich bleiben – für den Rest Ihres erbärmlichen Lebens eine zweitklassige unbekannte Flachpfeife?« Gekicher ging durch die Reihen, und Elias errötete vor Freude. Normalerweise wurde so nur auf seine Kosten gelacht. »Sibirien wäre einmalgenau der richtige Ort für Sie gewesen«, fügte er hinzu. »Zumindest hätten Sie in einem Arbeitslager gelernt, was harte Arbeit ist.«
Erneutes Gelächter.
Alexander grinste höhnisch. »Es interessiert Sie doch gar nicht, was aus uns wird. Das Einzige, was Sie interessiert, ist Ihre Karriere. Wegen einer deutschen Invasion zu Ruhm gelangen? Sie sind keinen Deut besser als ein Nazikollaborateur!«
»Ein Arbeitslager wäre noch zu gut für Sie.« Elias sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Ob es Ihnen nun passt oder nicht – fürs Erste sind Sie dazu verurteilt, mit mir zu arbeiten.«
Die anschließende Stille wurde nur von dem anhaltenden Summen an der Scheibe durchbrochen. Elias trat ans Fenster und riss es auf. Eine Kakophonie des Gehämmers und Geklappers ergoss sich in den Raum. »Hören Sie sich das an!« Er drehte sich zum Orchester um. »Wir befinden uns im Krieg mit den Deutschen, wir sollten uns nicht gegenseitig bekriegen. Bis wir zum Kampf gerufen werden, machen wir die Arbeit, für die wir ausgebildet sind. Wir sind keine Kinder auf
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