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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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dem Spielplatz, keine Tiere, die im Käfig vor sich hin vegetieren. Wir sind Berufsmusiker, und als solche werden wir Musik machen, bis wir keine Lippen, Lungen oder Arme mehr haben.« Er blickte noch einmal aus dem Fenster und sah das Dach des Alexandrinski-Theaters vor Geschützen, die wie anklagende Finger in den Himmel zeigten, nur so strotzen. Er knallte das Fenster zu und sprach in die wieder versiegelte Stille hinein. »Haben Sie verstanden?«
    In einer Ecke des Raums setzte ein leises Pochen ein, das sich rasch ausbreitete und anschwoll wie Regen. Die Geiger in den hinteren Reihen klopften mit ihren Bögen auf die Musikständer, und Ilja Fomenko schloss sich mit seinen Trommelstöcken an. Die Holzbläser begannen, mit den Füßen zu trampeln. Bald applaudierte der ganzeRaum. Nur Alexander stand stumm und rot im Gesicht an der Wand.
    »Ich möchte mit dem ersten Satz der 1812 beginnen«, sagte Elias. »Bitte holen Sie Ihre Partituren heraus.« Während er wartete, sah er sich plötzlich selbst in dem großen Spiegel. Wie merkwürdig! Sein Gesicht erschien so blass und ungerührt wie immer – doch im Inneren war ihm, als ob er sänge.
Begegnungen und Abschiede
    Sollertinski gab ein großes Abschiedsfest. »Eine ordentliche Sause«, erklärte er. »Jede Menge Essen, keine Reden und auf keinen Fall Tränen.« Es sollte in seinem Lieblingsrestaurant am Bolschoi-Prospekt stattfinden, dem Tschwanowa, dessen Babywachteln in Estragon-Süßkirschen-Sauce unübertroffen waren.
    Nina äußerte, wie so oft dieser Tage, Bedenken. Das Einzige, was sie mit voller Überzeugung tat, war, Schostakowitsch zum Verlassen der Stadt zu drängen. »Es kommt mir nicht richtig vor, mitten in all der Unsicherheit Feste zu feiern. Dir etwa?«
    »Nein, natürlich nicht.« Schostakowitsch strich sich mit einer Hand das Haar zurück und brachte mit der anderen Korrekturen in seiner Partitur an. »Die Boris-Melodie sollte mit den Celli anfangen und aufwärtswandern, nicht anders herum.«
    Nina verdrehte die Augen. »Gut, dann unterhalte ich mich eben mit mir selbst.«
    Schostakowitsch beugte sich tief über den Schreibtisch, worauf ihm die ungebärdige Stirnlocke in die Augen fiel. »Verdammt! Muss ich diese Locke denn abschneiden, damit sie mich nicht immer stört. Jetzt sieh dir das an! Haaröl über der ganzen Basslinie.«
    Rasch kam Nina mit einem kleinen Topf Pomade zu ihm. »Steh mal still.« Im Nu lag die Strähne glänzend undflach auf der rechten Seite von Schostakowitschs ärgerlich gerunzelter Stirn. »Du könntest versuchen, es weiter in der Mitte zu scheiteln«, schlug sie vor, während sie mit geschickten Händen das Öl von der Partitur zu löschen begann.
    Schostakowitsch betrachtete ihre Schultern, weiß und glatt unter den cremefarbenen Spitzenträgern ihres Unterkleids. Durch den dünnen Baumwollstoff sah er die Stufen ihres Rückgrats verführerisch, verwirrend abwärtsführen. »Ein Mittelscheitel funktioniert bei meinem Haar nicht«, murmelte er. »Damit sehe ich aus wie ein Bauer.«
    Sie hielt die Partitur von sich weg, den Blick auf die kleinen Ölflecken gerichtet, ohne zu sehen, was darunterlag – eine aufsteigende, immer lauter werdende Es-Dur-Linie, dazu Trommelschläge, dunkel und beständig wie das Meer. »So ist es besser.« Auch ihre Brustwarzen waren durch das Unterkleid sichtbar; plötzlich sehnte er sich danach, sie zu berühren, zu spüren, wie sie sich unter seinen Fingern verhärteten.
    Doch schon war sie wieder auf der anderen Seite des Zimmers und kramte in ihrem Schmuckkasten. »Du musst dich beeilen. Du hast versprochen, Galina noch etwas vorzulesen, bevor wir gehen.«
    »Müssen wir da hin?« Er fühlte sich hin und her gerissen: hier die Partitur für seinen Marsch, dort seine kurvenreiche Frau.
    »Deine Arbeit ist noch hier, wenn du nach Hause kommst. Sollertinski dagegen ist bald in Sibirien.« Doch über Ninas Lippen huschte ein verstohlenes Lächeln, als spürte sie, dass ihr Mann an sie dachte, und mit selbstsicherer Miene legte sie sich die Topaskette um den Hals.
    Die Gehsteige Leningrads ähnelten mittlerweile einem militärischen Übungsgelände, voller Stacheldrahtrollen, alter Matratzen und Schutthaufen. Als sie den Petrogradski-Bezirk erreicht hatten, war der Saum von Ninas Kleid schmutzig. »Sollertinski wird ohnehin zu beschwipst sein,um zu merken, wie wir aussehen«, sagte Schostakowitsch, als er sich vor der Restauranttür die Schuhe abtrat.
    Drinnen spielte glitzerndes Licht auf

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