Dirigent
sehen, wer womöglich zuhörte. »Außerdem, solange ich weiterhin Melodien für ihre infernalischen Blaskapellen produziere, haben sie keinen Grund zur Beschwerde.«
»Ich hoffe, mein Mann deprimiert Sie nicht.« Seine Frau war an seiner Seite aufgetaucht, warf ihm einen schnellen, prüfenden Blick zu, sprach aber Nina Bronnikowa an. »Er findet die ersten Stadien von allem schwierig, egal, was es ist – dabei ist er oft der strahlende Mittelpunkt eine Feier, wenn sie erst einmal in Schwung kommt.«
»Ganz im Gegenteil, er hat mich inspiriert! Seine Entscheidung, in Leningrad zu bleiben, obwohl die Deutschen unmittelbar vor unseren Toren stehen, zeigt ein Pflichtbewusstsein, zu dem die wenigsten von uns imstande sind.«
»Pflicht?« Nina Schostakowitsch runzelte die Stirn. »Meines Erachtens ist das Wort ›Pflicht‹ inzwischen der am meisten überstrapazierte Begriff in unserer Gesellschaft,ganz zu schweigen davon, dass er als Rechtfertigung für alle möglichen Gräueltaten herhalten muss. Ist es unsere Pflicht, angesichts einer zunehmend gefährlichen Lage zu bleiben – oder eher, unsere Kinder in Sicherheit zu bringen? Pflichtbewusstsein gegenüber dem eigenen Land bedeutet auch, dass man dessen Zukunft sicherstellen muss.«
»Wir wissen ja gar nicht, ob es sicherer ist, die Kinder aus der Stadt zu schicken«, sagte Schostakowitsch laut. »Denk an das Desaster vom letzten Juni! Da wurden Kinder in Züge gesetzt, die dem Feind direkt über den Weg fuhren, und wieder zurückgebracht.«
»Es geht nicht nur um die Evakuierung der Kinder«, antwortete seine Frau scharf. »Es geht auch darum, dich selbst in Sicherheit zu bringen, damit deine Kinder mit einem Vater aufwachsen können.«
Wie schnell das Gespräch sich vom Unpersönlichen zum Persönlichen gewendet hatte! Er verspürte den gleichen Drang zu fliehen wie früher als kleiner Junge. Jetzt, da er zu alt war, um wegzulaufen, und zu zivilisiert, um sich zu entziehen, sagte er nichts, sondern starrte nur auf den Boden seines Glases.
»Die Sache hat viele Seiten«, sagte Nina Bronnikowa diplomatisch. »Nicht nur, dass der Krieg Chaos auf unseren Straßen geschaffen hat, er zwingt uns auch moralische Dilemmata auf. Selbst dieses Fest« – sie zeigte auf die mit Wildschwein, ganzen Fischen und goldenen Melonen beladenen Platten – »erscheint mir wie der letzte Atemzug des römischen Reichs. Eine mutwillige Leugnung dessen, was auf uns zukommt.«
»Ja, es ist schon paradox, so eine Feier zu genießen«, sagte Nina Schostakowitsch, »während die Brotschlangen Tag für Tag länger werden.«
»Unser Land gründet auf solchen Paradoxien!« Sollertinski hatte sich zu ihnen gesellt und stieg sofort in die Debatte ein. »Der Widerspruch ist das Wesen Russlands,das war immer schon so. Die guten Karten abzulehnen, die man an uns ausgeteilt hat, nützt den weniger Begünstigten auch nichts.« Er sah derangiert aus, mit schweißnasser Stirn und hochgekrempelten Ärmeln, doch er sprach ganz ernsthaft. »Zum Beispiel unser Freund Dmitri. Denkt an die Musik, die nie geschrieben worden wäre, wenn er keine Kompromisse geschlossen hätte. Im Notfall in Deckung gehen, marschieren, wenn es gefordert wird, und immer auf dem schmalen Grat zwischen Integrität und gesundem Menschenverstand bleiben.«
»Du übertreibst.« Schostakowitsch schüttelte den Kopf. »Ich tue nur das, wozu ich geboren wurde.«
»Du bist zu bescheiden.« Sollertinskis Haselnussaugen funkelten. »Ich sage lediglich, dass nichts nur schwarzweiß ist, auch nicht – oder schon gar nicht – in Kriegszeiten.«
Schostakowitsch seufzte. Obwohl er sich dank des Wodkas inzwischen etwas geselliger fühlte, wünschte er, all dieses Gerede über den Krieg und seine Arbeit würde aufhören und er könnte nach Hause gehen, um seinen Marsch voranzubringen.
»Nichts für ungut«, sagte er schulterzuckend. »Aber meine Gedanken sind zur Hälfte bei der Arbeit und zur Hälfte im Schützengraben.«
»Kein Wunder, dass du geistloser wirkst als sonst. Gogol hat über einen Mann ohne Nase geschrieben, und wir reden hier mit einem Mann ohne Gedanken!« Sollertinski umarmte ihn. »Du großer Tollpatsch. Mir fehlt normalerweise nichts außer dem nötigen Feingefühl gegenüber meiner Frau vielleicht, aber bei Gott, du wirst mir wirklich fehlen.«
Elias kam später – seine Mutter ins Bett zu bringen war besonders schwierig gewesen – und hielt in der Tür inne. Ausnahmsweise einmal nicht, weil er sich scheute,
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