Dirigent
Flügel hervor und warf die Manuskriptseiten auf den Boden. »Es leckt an manchen Stellen. Das Wasser sammelt sich auf dem Sims und läuft dann ungefähr hier über.« Er stand mit dem Topf in der Hand da und blickte zu dem rissigen hölzernen Fensterrahmen hoch.
Elias stand auf. Er hatte so lange still gesessen, dass seine Knie knackten, als wäre er ein alter Mann. »Ich sollte jetzt aufbrechen. Ich bestehe bei meinem Orchester auf Pünktlichkeit, also muss ich mit gutem Beispiel vorangehen.«
»Wozu sind Dirigenten sonst da?« Schostakowitsch stellte den Topf unter den Sims und geleitete Elias zur Tür. »Ich danke Ihnen für das Papier. Und auch für Ihre offenen Worte zu meiner Sinfonie. Es ist selten angenehm, die Wahrheit über die eigene Arbeit zu hören, aber Ehrlichkeit ist allemal besser als Speichelleckerei.«
Elias blieb wie angewurzelt stehen. »Das war keine Kritik! Ich finde Ihre Sinfonie fa–« Er grub die Fingernägel in die Handflächen. »Sie ist w-w-wun–«
Schostakowitsch sah sich im vorderen Zimmer um. »Gott sei Dank. Die Kinder scheinen Mittagsschlaf zu halten. Endlich Ruhe. Möchten Sie sich einen Schirm borgen?«
Nina kam aus dem gegenüberliegenden Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. »Sie sind todmüde. Überdreht wegen des Fliegeralarms.« Sie wandte sich an Elias. »Möchten Sie eine Tasse Tee? Es ist ja in letzter Zeit nicht leicht, Lebensmittel aufzutreiben, aber Tee haben wir noch.«
»Keinen Tee«, sagte Schostakowitsch schroff. »Er ist furchtbar in Eile.«
»Dann lass mich Herrn Eliasberg wenigstens ein Glas Wasser einschenken. Ich fürchte, wir waren sehr schlechte Gastgeber.«
»Im Gegenteil, es war wunderbar.« Elias versuchte zu lächeln. »Ich hatte immerhin das Privileg, mir das neue Werk Ihres Mannes anhören zu dürfen. Eine seltene Ehre, und –«
»Das Werk!« Schostakowitsch stolzierte zum Tisch, packte Elias’ Handschuhe und hielt sie ihm etwas verzweifelt hin. »Sie müssen sich jetzt ans Werk machen und ich auch!«
Nina legte ihm eine Hand auf den Arm. »Dmitri, ist alles in Ordnung?«
»Das Scherzo«, sagte Schostakowitsch leise. »Es wartet. Immer wartet es.«
Nina seufzte. »Auf Wiedersehen, Herr Eliasberg. Seien Sie vorsichtig. Die Welt da draußen wird immer gefährlicher.«
Elias stolperte die Treppe hinunter und hielt auf dem ersten Absatz inne. Dicke Holzbretter waren vor die Fenster genagelt worden, sodass ihn fast völlige Dunkelheitumgab. Er wartete, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten, und zog dann ein Blatt Papier aus seiner Aktentasche. In Blockbuchstaben, viel größer als sonst, schrieb er FABELHAFT darauf. Dann faltete er das Blatt in der Mitte, ging auf Zehenspitzen die Treppe wieder hinauf und schob den Zettel unter Schostakowitschs Tür hindurch.
Die Brandnacht
Das Schlimmste war der Lärm. Normalerweise freute sich Nikolai auf den Herbst. Nach der flüchtigen Euphorie des Sommers mit seinen liederlichen weißen Nächten kehrte sich die ausschweifende Stadt wieder nach innen und gewann ihre Würde zurück. Er mochte Leningrad so lieber: wenn die Straßen ruhig und leer waren, die Schritte von den Mauern widerhallten, der eisige Hauch der Marschen im Wind lag.
Doch in diesem Jahr blieb Leningrad der Frieden verwehrt, obwohl die Blätter langsam braun und die Abende kühl wurden. Das Hämmern und Sägen war von weit schlimmeren Geräuschen verdrängt worden: heulenden Alarmsirenen und kreischenden Artilleriegranaten, Geknatter von Flakfeuer und Gejaule von Kampfflugzeugen. Wenn die Junkers auftauchten, folgte auf ihr lautes Dröhnen ein ohrenbetäubendes Chaos. Feuer brüllte auf den Dächern, und unter unglaublichem Krachen und Bersten von Stein und Holz brachen ganze Gebäude zusammen.
»Es ist, als litte die Stadt selber Schmerzen.« Nikolai drängte sich auf dem Dach des Konservatoriums an einen Schornstein. »Ist Ihnen dieser ständige Lärm nicht auch zuwider?«
Schostakowitschs Gesicht war ein verschwommener weißer Fleck in der Dunkelheit. »In meinem Kopf war es noch nie still. Vielleicht ist es deshalb leichter für mich.«
»Nicht leichter«, sagte Nikolai, den Kopf gegen dieSteine gelehnt. »Nur anders.« Er war so müde, dass es ihm mit Mühe und Not gelang, zwei Wörter aneinanderzureihen. Wie lange konnte er so weitermachen? Auf den Proben, nach schlaflosen Nächten, erschien es ihm fast zu anstrengend, auch nur den Bogen an die Saiten zu heben; es war, als wären seine Finger nicht mit
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