Dirigent
Stille ein.
Elias wich zurück. »Es tut mir leid –«
»Bitte entschuldigen Sie. Ich habe natürlich nicht Sie gemeint!« Schostakowitsch wischte sich mit dem Unterarm über das Gesicht, sodass nun auch sein Ärmel mit Tinte beschmiert war. »Meine Familie ist ganz aufgewühlt wegen des Luftangriffs – allerdings muss ich leider zugeben, dass dieser Zirkus auch sonst nichts Ungewöhnliches ist.« Er sah Elias an, als nähme er ihn erst jetzt richtig wahr. »Wenn das nicht Karl Eliasberg ist! Bitte, kommen Sie doch herein.«
Der Raum war groß, spärlich möbliert und von einem diesigen Licht erfüllt. Auf dem Sofa saß Nina Schostakowitsch, den glatten schwarzen Schopf über zwei kleinere gebeugt, und versuchte das Geschniefe und Geschluchze zu besänftigen. »Guten Morgen«, sagte sie zu Elias. »Entschuldigen Sie den geräuschvollen Empfang.«
»Aber nein – ich muss mich für mein unangekündigtes Kommen entschuldigen«, sagte er über die Schulter hinweg, während er Schostakowitsch in ein anderes Zimmer folgte. Seine Stimme klang unbeholfen und verschüchtert.
»Die Hölle.« Schostakowitsch zog die Tür fest hinter sich zu und sank auf den Klavierhocker. »Als die Sirenen losgingen, sind wir in den Keller gelaufen, wo wir gezwungen waren, weiß Gott wie lange in unmittelbarerNähe von Nachbarn zu sitzen, mit denen ich keine zwei Minuten verbringen möchte. Und die Bomben haben meiner Frau ihrerseits Munition geliefert. Sie besteht darauf, dass wir Leningrad innerhalb der nächsten Stunde verlassen müssen.« Er blickte auf einen Stapel Papier zu seinen Füßen und schien mit sich selbst zu sprechen. »Unvollendet. Unbefriedigend. Und trotzdem will sie spätestens morgen hier weg sein!«
Elias setzte sich auf den nächstbesten Stuhl und legte die Aktentasche auf seine Knie. »Ich b-bin ansch-scheinend in einem schwierigen Moment gekommen. Verzeihen Sie die Störung, aber ich habe etwas, was Sie vielleicht gebrauchen können.«
»In diesem Haushalt ist jeder Moment schwierig. Ich verstehe schon, warum Beethoven Brieffreundschaften dem Familienleben vorgezogen hat. Können Sie sich vorstellen, was aus der Eroica geworden wäre, wenn ihr Schöpfer mit zwei Kindern hätte fertig werden müssen?«
Elias hustete befangen. »Wo Sie gerade die Eroica erwähnen – ich möchte gern, dass das Rundfunkorchester – irgendwann einmal –«
»Das Rundfunkorchester?« Schostakowitsch richtete sich auf. »Das wäre vielleicht wirklich eine Möglichkeit – obwohl Mrawinski zu wissen scheint, wie mein Verstand arbeitet.« Er beäugte Elias durch seine Stahlrandbrille. »Wie macht sich denn Ihr Orchester?«
»Angesichts der Umstände ganz zufriedenstellend. Wir sind wegen der militärischen Verpflichtungen ein wenig dezimiert, aber wir kommen zurecht. Gegenwärtig proben wir Tschaikowskis Fünfte –«
»Ja, ja, das weiß ich von meinem Freund Nikolai. Mich interessiert nicht Ihr Repertoire, sondern das Kaliber Ihrer Musiker. Wie ist es zum Beispiel um Ihre Bläser bestellt?«
»Meine Bläser«, sagte Elias. »Meine Bläser?« Mit Herrn Schostakowitsch allein zu sein hatte eine sonderbare Wirkung auf ihn. In seinen Ohren war ein beständiges Rauschen,und an den Rändern seines Blickfelds verschwamm alles rötlich.
Schostakowitsch rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Sind sie stark? Ich war schon lange in keinem Konzert mehr von Ihnen.«
»Ob sie stark sind?« Elias hätte sich am liebsten seine Papageienzunge abgebissen. Er riss die Augen von Schostakowitschs hypnotisierendem Blick los und bemühte sich, klarer zu denken. »Sie sind begabt genug. Nur mit meinem ersten Oboisten bin ich nicht einverstanden und hoffe ihn noch vor Jahresende auswechseln zu können. Aber jetzt im Krieg ...« Er verstummte. »Im Moment ist alles ungewiss«, sagte er dann.
»Aha.« Schostakowitsch klang enttäuscht. »Die Oboe ist überaus wichtig. Was ist mit dem Rest?«
»Mit dem Rest bin ich ziemlich zufrieden.« Er wusste nicht recht weiter. Seine Zufriedenheit war sicherlich nicht Schostakowitschs größte Sorge – aber was dann? »Sie spielen seit sechs Jahren zusammen, die Posaunen sind hervorragend, ebenso wie die Hörner. Und von meinen Trompeten hat Semjon Schilfstein kürzlich in einer Kritik geschrieben, sie gehörten zu den besten des Landes. Aber vielleicht haben Sie das ja letztes Frühjahr in der Prawda gelesen?« Er machte eine hoffnungsvolle Pause, doch Schostakowitsch blickte mit unbestimmter Miene an
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