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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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seinen Händen verbunden. Ich fühle mich amputiert , dachte er.
    »Kaffee?« Schostakowitsch hielt ihm eine Blechtasse hin. »Sie sehen aus, als ob Sie welchen brauchen könnten.«
    Nikolai schüttelte den Kopf. »Davon fange ich bloß an zu zittern.«
    »Doch nicht von dieser Plörre! Sie schmeckt wie ein Teil Kaffee und fünf Teile Schlamm.«
    Nikolai nahm einen Schluck. »Widerlich«, sagte er, obwohl er gar nichts schmeckte.
    »Nicht wahr? Eine unserer Nachbarinnen macht angeblich aus Kaffeesatz neuerdings Pfannkuchen. Nina hat gesehen, wie sie den Abfall durchwühlte.«
    »So weit ist es also wieder mit uns gekommen. Literweise Kohlsuppe, vergammeltes Fleisch im Borschtsch – wenn es überhaupt welches gibt ...«
    »Mit Wasser verdünnter Haferbrei, mit Wasser verdünnter Wodka.« Schostakowitsch seufzte. »Ersatzzucker, Ersatzfett, Ersatzalles. Man sollte meinen, wir seien von früher noch daran gewöhnt, aber wie schnell man vergisst!« Er leerte den Becher in seinen Mund und spuckte über den Rand des Gebäudes. »Ich wollte gerade sagen, man gewöhnt sich an alles, aber an diese Brühe kann ich mich einfach nicht gewöhnen.«
    Es stimmte, überlegte Nikolai, die menschliche Natur war äußerst anpassungsfähig. Was eben noch merkwürdig schien – einen Helm aufsetzen, mit einem Eimer Sand in der Hand auf ein Dach steigen –, war schon zur Routine geworden. Menschen, die früher feinste Leinenmäntel genäht hatten, fädelten jetzt Zündschnüre in Artilleriegranatenein. Andere, die ihren Drang zu beten stets unterdrückt hatten, wurden offiziell gedrängt, Kirchen zu betreten. Es gab nur eins, woran Nikolai sich nicht gewöhnen konnte: den furchtbaren Schmerz, der in ihm war, seit er Sonjas Finger von seinem Handgelenk losgebogen und sie in den Waggon gehoben, sie der Obhut einer Unbekannten übergeben hatte. Dieser Schmerz war noch so frisch wie am Anfang, und seine Kraft und Grausamkeit erstaunten Nikolai. Er sprang ihn an, wenn er in seine Wohnung kam, erwartete ihn in seinen Träumen, wenn er vor Erschöpfung eindämmerte. Er brannte sich durch seinen betäubten Zustand des Schlafentzugs wie gefrorenes Metall durch die Haut. Niemals würde Nikolai sich daran gewöhnen, dass Sonja nicht da war, und wann immer er um eine Ecke bog oder in eine Straßenbahn stieg, hielt er Ausschau nach ihr. »Ich werde mich nie an deine Abwesenheit gewöhnen«, flüsterte er und schabte mit den Füßen an der Regenrinne, um seine Worte zu übertönen.
    Trotz der enormen Schwingarme der Suchscheinwerfer konnte man die zarten Punkte der Sterne gerade noch ausmachen. »Es ist ziemlich ruhig«, sagte Schostakowitsch. »Vielleicht ist uns ja eine stille Nacht vergönnt.«
    Er hatte recht. Selbst das gedämpfte Wummern der fernen Artillerie war verstummt. Es war ein schlimmer Tag gewesen, Wellen von Junkers waren über die Stadt hinweggeflogen und hatten Brandbombenschauer niederprasseln lassen. Den ganzen Abend hatten Feuerbrigaden gegen die lodernden weißen Flammen gekämpft. Als er an dem kleinen Park vorbeigekommen war, hatte Nikolai Kinder gesehen, die hektisch Erde schippten und sie auf mehrere Feuer häuften.
    Schostakowitsch lehnte sich an einen Schornstein, ein loser Dachziegel krachte ihm auf den Helm. »Der russische Komponist Dimitri Schostakowitsch«, sagte er mit der Stimme eines Rundfunksprechers, »verbrachte den Winter 1941 damit, zu verhindern, dass Brandbomben aufseinen Arbeitsplatz fielen. Das Einzige, was herabfiel, war ein Teil des Daches – und zwar auf ihn.«
    Nikolai lächelte. »Vielleicht finden die Deutschen ja, sie hätten uns für einen Tag genug Demütigungen zuteil werden lassen.«
    »Wollen wir’s hoffen. Die Stadt hält nicht mehr lange durch. Möchten Sie nicht ein wenig schlafen, solange die Luft rein ist?«
    Der Gedanke, sich hinzulegen, war ihm genauso angenehm wie unangenehm. Er hatte die vergangene Nacht, in eine Wolldecke gehüllt, auf einem Stuhl in Sonjas Zimmer zugebracht und einzuschlafen gehofft, indem er so tat, als sei er nicht an Schlaf interessiert; doch der Trick hatte nicht funktioniert. Inzwischen kannte er jede Einzelheit des Zimmers, hatte jedes Gespräch, das er und Sonja je geführt hatten, im Geist wiederholt, und dennoch streiften seine Augen noch immer rastlos umher und hofften, etwas Neues zu entdecken. Als die Morgendämmerung um die Verdunkelungsjalousie herumgekrochen war, hatte er sich vor Wehmut und Kummer ganz krank gefühlt.
    »Und, was meinen Sie?«,

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