Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
ihm vorbei. »Ihre Lungenkapazität«, fuhr Elias hastig fort, »müsste jedenfalls, dem permanenten Gebrüll und Gezänk nach zu urteilen, in ganz Russland die größte sein!«
    Aber der Witz war vergeudet, Schostakowitsch begann rasch und nachdenklich mit seinem Bleistift auf den Schreibtisch zu klopfen. »Wenn ich doch nur etwas von Sollertinski oder Mrawinski hören würde! Wer weiß, ob sie in Nowosibirsk überhaupt adäquate Probenbedingungen haben. Aber sie sind schon seit zwei Wochen dort, und ich höre nichts. Gar nichts!«
    Elias errötete vor gänzlich unbegründeten Schuldgefühlen.Schließlich konnte er ja nichts dafür, dass Leningrads Spitzenmusiker im sibirischen Exil waren und die Post noch unzuverlässiger arbeitete als sonst und die Militärzensoren die Macht hatten, jeden Brief abzufangen, wenn ihnen auch nur die kleinste Kleinigkeit an der Zeichensetzung nicht passte. »Ich habe auch keine Nachrichten«, traute er sich zu sagen, obwohl es keinen Grund der Welt gab, warum irgendjemand von der Philharmonie ihm hätte schreiben sollen, selbst in Friedenszeiten, ganz zu schweigen vom künstlerischen Leiter oder dem Dirigenten.
    »Ich hatte auf eine Aufführung hier in Leningrad gehofft.« Schostakowitsch kratzte sich mit dem Bleistift am Ohr. »Obwohl das natürlich vom Verlauf des Krieges abhängt.«
    »Natürlich.« Elias wurde allmählich schwindelig.
    »Aber was fällt mir ein?« Es schien, als sähe Schostakowitsch ihn zum ersten Mal richtig an. »Ich habe Sie gar nicht gefragt, wie Sie diesen furchtbaren Morgen erlebt haben. Ich hoffe, Ihnen ist nichts zugestoßen?«
    »Nein, nein, das nicht, danke der Nachfrage. Ich war zufällig in der Nähe eines Bunkers, als die Flugzeuge kamen, weit entfernt von den Vierteln, über denen die Bomben abgeworfen wurden.«
    »Ein Glück. Obwohl ich fürchte, dass die deutsche Taktik damit klar ist. Es reicht ihnen nicht, uns in unserer eigenen Stadt einzusperren, vielmehr haben sie vor, uns das tägliche Leben zur Hölle zu machen.«
    »Ja, das war wohl nur ein Vorgeschmack auf Kommendes.« Erneut hörte Elias das schreckliche Gejaule der Flugzeuge, sah sie angeschwärmt kommen und den Himmel verfinstern wie eine Plage. Er holte sein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab.
    »Bitte sagen Sie so etwas nicht in Gegenwart meiner Frau«, bat ihn Schostakowitsch und blickte etwas gehetzt zur Tür. »Ich möchte sie nicht beunruhigen.«
    »Das würde ich niemals tun. Ich habe sowieso nicht viel Zeit, ich muss gleich zur Probe. Der Grund meines Besuchs –« Doch nun ging Elias’ Gestotter wieder los, und seine Zunge wurde zu Holz. »Ich h-h-habe gehört ... man h-h-hat mir erzählt –« Er gab auf, griff in die Innentasche seiner Jacke und legte das dicke Paket auf den Schreibtisch. »Es tut mir leid, dass es zerknittert ist. Ich habe während des Luftangriffs leider darauf gelegen.«
    Mit etwas spitzen Fingern machte Schostakowitsch den Packen auf. Ein paar Sekunden lang saß er reg- und sprachlos da, dann sprang er vom Hocker auf. »Notenpapier!«, rief er und schwenkte es über dem Kopf. »Und so viel davon! Wo in Gottes Namen haben Sie das her? Es ist schwerer zu finden als das Ende des Regenbogens!«
    Elias’ Gesicht glühte. »Ich hatte es noch von meinem Kompositionsunterricht am Konservatorium übrig. Ich habe nicht viel gebraucht. War nie besonders gut im Komponieren, wissen Sie.«
    »Das ist ja wunderbar! Phantastisch! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel das ausmachen wird! Nicht mehr knickern und knausern zu müssen und vor allem nicht mehr mit diesem Ding hier kämpfen –« Er fuchtelte mit etwas, das wie eine große Metallspinne aussah. »Wie kann ich Ihnen das je vergelten?«
    »Nicht nötig.« Elias scharrte unter seinem Stuhl mit den Füßen. »Ich bin froh, wenn ich Ihnen zu Diensten sein kann.«
    »Können Sie nicht noch eine Minute bleiben?« Schostakowitschs Gesicht leuchtete. »Ich habe vor ein paar Tagen ein Werk abgeschlossen – oder zumindest den ersten Satz davon.« Aber er wartete Elias’ Antwort gar nicht ab. Er schnappte sich ein paar Blätter, die neben dem Klavier lagen, zog den Hocker heran, ließ einen Moment lang die Hände über der Tastatur schweben und fing dann an zu spielen.
    Während die Töne sich nach und nach zu einer massivenMauer auftürmten, saß Elias vollkommen still da und beobachtete Schostakowitschs leicht stoppliges konzentriertes Gesicht. Sein Mund zuckte beim Spielen, und er hämmerte auf die

Weitere Kostenlose Bücher