Dirigent
Tasten ein, als wären sie aus Stahl und nicht aus Elfenbein. Manchmal übersprangen die Hände einander, flog die linke weit über die rechte hinweg und wieder zurück.
Als das marschähnliche Thema lauter wurde, fing das Klavier an zu beben. Blätter flogen vom Notenpult und schossen durch die Luft. Doch Schostakowitsch sah gar nicht mehr hin, sein Gesicht berührte beinahe die Tasten, und die Brille war ihm bis zur Nasenspitze heruntergerutscht. Dann, mitten in einer sich wie wild wiederholenden Phrase, hörte er auf. Das einzige Geräusch war das Tellerklappern im anderen Zimmer.
Schostakowitsch schob die Brille wieder hoch, richtete sich auf und atmete schwer. »Der Rest ist ein Fagottsolo. Eine Art Elegie. Aber das wirkt auf dem Klavier nicht.«
Endlich konnte Elias den Stuhl loslassen. Seine Finger waren ganz rot und eingekerbt, so fest hatte er das Holz umklammert. »Das ist ... Oh, es ist –!« Doch der Raum verschwamm; schnell wischte er sich über die Augen. »Wird es eine Sinfonie?«
»Ja, obwohl mir das nicht sofort klar war. Ich habe in den ersten Wochen des deutschen Vormarsches damit begonnen.«
»Eine Kriegssinfonie. Für Leningrad.« Nach Schostakowitschs tollkühner, trotziger Musik klang Elias’ Stimme kläglich. »Es wird Ihre Eroica werden.«
Schostakowitschs gerötete Wangen wurden allmählich wieder blasser. Auf einmal sah er kleiner und dünner aus, sein Hemd hing ihm locker um die Schultern. »Mag sein, dass manche das so sehen werden. Wenn sie es gut mit mir meinen. Aber eher wird man es wohl mit Wellingtons Sieg vergleichen – einem der einfältigsten Werke Beethovens, wie Sie wissen.«
»Bei der Uraufführung von Wellingtons Sieg haben ein paar von Wiens besten Musikern mitgewirkt!«, protestierte Elias. »Salieri, Meyerbeer – die Menschen waren begeistert! Sie können nicht leugnen, dass es ein großer Publikumserfolg war.«
»Ein Publikumserfolg, ja.« Schostakowitsch zuckte die Schultern.
»Sie haben genau wie Beethoven das Wesen des Krieges eingefangen. Das kann den Leningradern nicht entgehen.«
»Ein naturalistisches Schlachtgemälde mag vielleicht dem Publikum gefallen, aber es kann, wie man bei Beethoven gesehen hat, auch zu einer ästhetischen Peinlichkeit werden.« Mit jedem Wort sackte Schostakowitsch mehr in sich zusammen. »Finden Sie nicht«, fügte er hinzu, »dass dieser Satz ein bisschen an Ravels Bolero erinnert?«
»Genau! Ich konnte es nicht sofort zuordnen, aber ja, es ähnelt dem Bolero – der ruhige Anfang, das Crescendo, die beharrliche Wiederholung.«
Schostakowitsch harkte die losen Seiten zu seinen Füßen zusammen. »Genau damit werden die Kritiker mich fertigmachen. Sie werden sagen, ich hätte Ravel kopiert. Na schön, sollen sie doch. So höre ich nun einmal den Krieg.« Er sah sich um und stopfte die Blätter dann in einen großen Kochtopf, der unter dem Flügel stand.
»Nicht nur Ravel«, sagte Elias hastig. »Ich habe auch deutliche Anklänge ans Heldenleben gehört. Und vielleicht eine kleine Verneigung vor dem zweiten Satz von Sibelius’ Fünfter.«
»Tatsächlich?« Schostakowitschs Brille funkelte im gefilterten Licht. »Strauss, Sibelius – und wie ist es mit Tschaikowski? Konnten Sie auch da Ähnlichkeiten entdecken?«
»Mir kam kurz die 1812 in den Sinn.« Elias fühlte sich allmählich wie bei seinem Examen im Konservatorium.
»Auch das ein naturalistisches Schlachtenstück. Interessant.«
»Aber Tschaikowski ist mir auch gerade sehr gegenwärtig«, stammelte Elias. »In drei Wochen übertragen wir die Fünfte nach England. Und die 1812 steht schon auf unserem Winterprogramm.«
»Der endgültige Vorwurf wird lauten«, sagte Schostakowitsch leise, »dass ich anfange, mich selbst zu zitieren. Eine siebente Sinfonie trägt die anderen sechs notwendigerweise auf dem Rücken. Aber wie kann ich das vermeiden, solange ich nicht ganz mit dem Komponieren aufhöre?« Er setzte sich auf den verblichenen Diwan, stützte die Hände auf die Knie und starrte zu Boden. »Wenn nur Sollertinski hier wäre. Er könnte mir helfen.«
Elias’ Magen begann sich schmerzhaft zu verknoten. Die Atmosphäre im Raum war eisig geworden, das Gespräch überfroren wie ein Teich im Winter. Schändlicherweise sehnte er sich beinahe nach dem Geräusch einer weiteren Fliegeralarmsirene.
Stattdessen fing es an zu regnen – ein Schwall traf auf die Fensterschreiben und ließ ihn zusammenzucken. Schostakowitsch sprang auf, zog den Kochtopf unter dem
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