Dirigent
Eine geschmeidige zweite Haut wuchs ihm von der Wirbelsäule aus um den Brustkorb und dichtete sein Herz ab, gegen Lärm ebenso wie gegen emotionale Erpressung, sodass er Maria weder mit dem Schrubber gegen den Eimer knallen hörte noch die strenge Karbolseife roch. Auf diese Weise war er in der Lage, sein wichtiges Werk fertig zu komponieren (es war das Jahr, in dem sein Klavierstück »Trauermarsch für die Opfer der Revolution« entstand) und nur die Töne in seinem Kopf zu hören.
Auch lange nachdem der Kiesel verschwunden war – zusammen mit seinem Vater (tot und begraben) und dem Klavier (verkauft, um die Miete zu bezahlen) –, blieb diese Fähigkeit seine Rettung. Als er im Gaspra-Sanatorium, in einem schmalen weißen Bett liegend, seine Unschuld an Tatjana Gliwenko verlor, hatte sie unerklärlicherweise gelacht – und schon war die kühle Haut über seinen linkischen Jungenkörper gewachsen und hatte ihn vor der Demütigung bewahrt. Und an einem eisigen Morgen im Jahr 1936, als er an der Haltestelle Archangelsk die Prawda aufgeschlagen und die Überschrift »Chaos statt Musik« gelesen hatte (nicht nur das Totengeläut für seine Oper, sondern auch seine erste öffentliche Bauchlandung), hatte er sich erneut auf diese Art verpuppt. Eine Lawine von Kritiken, von Leuten verfasst, die einst voll des Lobes gewesen waren und jetzt wie der Plebs hinter der Parteimeinung herliefen – er sei ein Formalist, ein Antisozialist und Feind des Volkes! –, ging auf ihn nieder, aber sie drang nicht in sein Herz ein.
Er hatte versucht, es Nina zu beschreiben. Lady Macbeth war immerhin ihr gewidmet. Er hatte sie in den Armen gehalten und ihr auf seine unbeholfene Art erklärt, wie es kam, dass die wiederholten Schläge der Kritiker ihn nicht umgebracht hatten.
»Ich weiß«, sagte sie und streichelte seine Stirn und sein raues Kinn. »Ich sehe, wie du es machst. Du ... gehst einfach weg.«
Damals, noch ganz im leidenschaftlichen Gefühl ihrer gerade erlebten Vereinigung, hatte es ihr anscheinend nichts ausgemacht. Später nahm sie ihm seine Absencen, sein Abtauchen im verästelten Innersten seiner Arbeit, übel. Sie meinte, er verstecke sich, während er es als Rückzug bezeichnete.
Und so war es auch jetzt, da Leningrad Tag für Tag brannte und der Asphalt unter den Granaten barst. Nachdem das Badajew-Feuer sechs Stunden lang gewütet hatte, die Lagerhauskeller von mehreren tausend Tonnen brennendem flüssigem Zucker überflossen und die Junkers immer wiederkamen, sperrte Schostakowitsch die Welt aus. In den folgenden zwei Wochen hielt er den Kopf gesenkt und verschloss die Ohren. Er schrieb schnell, manchmal sogar während der Luftangriffe, wenn der Gips von der Decke rieselte und Bücher aus den Regalen fielen und die einzige Glühbirne über dem Flügel schaukelte. In den Nächten des Brandschutzes gab es jede Menge zu tun – Brandbomben mit einem Tritt vom Dach zu befördern, Sand auf flackernde Magnesiumfeuer zu schütten –, doch für ihn waren sie eine Erleichterung von dem Druck, innerhalb seiner Sinfonie zu leben.
»Ich werde davon aufgezehrt«, gestand er Sollertinski über eine knisternde Telefonleitung. »Es ist zu viel, um es allein zu tragen. Wärst du doch hier!«
»Du solltest hier bei uns sein, mein Freund.« Sollertinski hatte auf einem Postamt in Nowosibirsk drei Stunden lang gewartet, um eine Verbindung zu bekommen – und dann war sie auch noch schlecht. »Ich bin nicht der Einzige, der meint, du solltest Leningrad verlassen. Es heißt, die Behörden –« Seine Stimme verlor sich in einem zischenden Mahlstrom, doch Schostakowitsch wusste schon genug. Jeden Tag konnte ein Parteifunktionär ihm einenEvakuierungsbefehl erteilen, den zu befolgen er wenig geneigt war.
Sollertinskis Stimme trieb ihm Tränen in die Augen. »Du fehlst mir«, sagte er. »Du fehlst mir wirklich.«
»Überleg es dir doch noch mal«, drängte ihn Sollertinski. »Sibirien ist nicht so fürchterlich, wie unsere Schriftsteller es schildern. Es wimmelt hier keineswegs von Sträflingen. Wir haben sogar zu essen – das heißt, wenn man steinharte Pasteten mit zentralasiatischen Ameisen zu schätzen weiß. Habt ihr genug?«
»Fürs Erste, ja.« Gerade an diesem Morgen hatte Schostakowitsch sich den Gürtel ein paar Löcher enger schnallen müssen. »Aber es sieht nicht gut aus. Die Brotrationen werden schon wieder gekürzt – auf fünfhundert Gramm, glaube ich.« Die Wahrheit war, dass er kaum wusste, was er in den
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