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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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hakte Schostakowitsch nach. »Wollen Sie nicht runtergehen?«
    »Ich glaube, ich mache hier oben ein kleines Nickerchen.« Er zog sich den Helm tief über die Augen, um nicht heuchlerisch oder undankbar zu erscheinen. Fünfzehn Minuten lang versuchte er, nicht an Sonja zu denken oder daran, was ihr passiert sein könnte; stattdessen beobachtete er aus einem nicht sichtbehinderten Augenwinkel, wie Schostakowitsch mit eingezogenen Schultern und entschlossener Miene dasaß. Dachte er an sein unvollendetes Werk, an seine verstreuten Freunde? Es war unmöglich zu sagen.
    Plötzlich entfuhr Schostakowitsch ein lauter Ausruf. »Was zum Teufel –?« Er warf die Decke ab, die er sich um die Schultern gelegt hatte, und spähte über die Stadt. »Was zum Teufel ist das?«
    Nikolai sprang ebenfalls auf. Im Süden hatte sich der Himmel rot verfärbt – ein tiefes, finsteres Rot. Dicke Rauchwolken stiegen auf, deren Unterseiten von einem sengend orangefarbenen Licht erleuchtet wurden. »Was können sie da bloß getroffen haben, dass ein derartiges Feuer entsteht?«, fragte er entsetzt.
    Augenblicklich, wie zur Antwort, wurden Rufe in der Gasse unter ihnen laut. »Holen Sie Hilfe! Die Badajew-Lagerhäuser brennen! Alle verfügbaren Männer werden gebraucht!«
    Schostakowitsch packte Nikolai am Arm. »Wenn die Lagerhäuser in Flammen und Rauch aufgehen, sind wir verloren. Die ganze Stadt ist dann verloren. Was passiert mit Zucker, wenn er brennt?«
    »Er schmilzt«, sagte Nikolai langsam, »und wird dann fest. Leningrad wird unter zwanzig Quadratkilometern Glasur verschwinden.« Das gewaltige Feuer war faszinierend und furchterregend zugleich; wie ein Waldbrand breitete es sich am Horizont aus.
    »Sehen Sie sich das an – wie ein verfluchtes Leuchtfeuer. Es wird die Aufmerksamkeit der Luftwaffe erregen. Sie werden bald da sein. Wie könnten sie sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen?«
    Schon krochen Lastwagen und Handwagen durch die Straßen und steuerten auf die lange rote Linie am Rand der Stadt zu. »Und was ist mit all den anderen Bränden?« Nikolai spürte eine neue Verzweiflung in sich aufsteigen.
    »Die werden ignoriert.« Schostakowitschs Brillengläser flackerten, weil sich das schwache orangefarbene Licht in ihnen spiegelte. »Die Badajew-Lagerhäuser sind aus Holz und vollgestopft mit Lebensmitteln. Die brennen wie Zunder. Wenn die Feuerbrigaden die Flammen nicht löschen können, wird morgen früh nur noch versengter Boden übrig sein.« Er klang zornig, aber es war schwer zu sagen, ob sein Zorn sich gegen die deutschen Bomber oder die Kurzsichtigkeit der zuständigen Behörden richtete.
    Schweigend, Schulter an Schulter, sahen sie zu, wie Leningrads Lebensmittelvorräte – Mehl, Speiseöl, Butter, Speck, Fleisch – das unaufhaltsame Feuer fütterten. Dichter schwarzer Rauch verschmutzte den Nachthimmel. Die Geräusche ferner Panik drifteten über die Stadt: Glocken, Megaphone, Männerstimmen, Hundegebell.
    Dann, als hätte all der Tumult sie ausgelöst, schrillten die Alarmsirenen.
    »Da kommen sie«, sagte Nikolai grimmig. »Wie die Motten zum buchstäblichen Licht.« Er blickte in Schostakowitschs angespanntes Gesicht und dann auf das Chaos vor ihnen. Zum ersten Mal war er beinahe froh, dass Sonja nicht mehr in Leningrad war.
Eine Art Rückzug
    Als Junge hatte Schostakowitsch sich ein geniales Spiel ausgedacht, das »Kiesel« hieß. Immer, wenn er seinen Haushaltspflichten entkommen wollte, holte er den geheiligten Stein aus seiner Dose und ließ eine seiner Schwestern raten, in welcher Hand er ihn versteckte. Schon bald hatte er das zu einer Kunst verfeinert, indem er die leere Faust aufpumpte, damit es wirkte, als sei der Stein darin, oder seine Finger flach gegen die Handfläche drückte, um so zu tun, als versuchte er, ihn zu verbergen.
    Nachdem sie ein paar Wochen lang immer falschgelegen hatte, fing Maria an, sich zu beschweren. Dmitri schummle doch! Die Putzarbeit, die das Schicksal und der Kiesel ihr aufzwangen, wurde zunehmend geräuschvoll und aufdringlich. Beim Fegen stieß sie gegen den Stuhl ihres Bruders, und wenn er dasaß und las, schrubbte sie ihm grob über die Füße. Sie brachte mit dem Staubwedel seine Stifte durcheinander und wischte die Klaviertasten, wenn er gerade spielte. Die Unruhe wurde ihm immer lästiger; der ganze Sinn der Sache war schließlich,dass er ungestört üben wollte. Und so hatte Schostakowitsch gelernt, sich einzuschließen – nicht körperlich, sondern geistig.

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