Dirigent
vergangenen Wochen gegessen hatte: Rotkohl mit ein paar Stückchen Wurst, getrocknete Champignons in wässriger Brühe, Brot mit Sonnenblumenöl anstelle von Butter. Die Hauptsache für ihn war, dass um die Mahlzeiten inzwischen nicht mehr so ein Wirbel gemacht wurde, sodass er schnell essen konnte, ohne beim Komponieren den Faden zu verlieren. Während er Zeit damit vergeudete, sich Essen in den Mund zu schieben, traten in seinem Arbeitszimmer die Geigen über einem Bass Pizzicato auf der Stelle.
Die Verbindung wurde jetzt noch schlechter. Bald hörte er nur noch dann und wann einen Ausruf oder einen Wortfetzen, doch er schaffte es einfach nicht, sich zu verabschieden. Als die Leitung schließlich tot war, fluchte er. Verdammter Mist! Er hatte eine Gelegenheit versäumt, wichtige Dinge anzusprechen, hatte über Lebensmittelrationen und einen Luftangriff vom Vorabend geschwafelt, aufgrund dessen sie zwei Stunden lang im Keller festgesessen hatten, anstatt ihn nach Mrawinski zu fragen oder danach, ob die Philharmoniker anfangen könnten, seine Sinfonie zu proben, und wie man eine Partitur nachSibirien transportierte und wie viele Kopien man davon machen könnte, wenn es auf Tausende von Seiten hinauslief. »Iwan Iwanowitsch!« Vor lauter Frustration trat er gegen die Wand: Der Name seines Freundes erfüllte ihn mit bösen Vorahnungen. Und wenn er nun nie wieder jenen kräftigen Arm um seine Schultern spüren, nie mehr den zerknitterten Kragen und den schlecht gebundenen Schlips zu sehen bekommen, nie wieder von den Gesprächen mit Sollertinski profitieren würde, der auf so vielen Gebieten, von Sanskrit bis Sophokles, bewandert war?
Er musste weiterarbeiten, das wusste er, doch sein Widerwille war auf einmal so groß, dass es ihn selbst überraschte. Mach weiter , befahl er sich. Es ist der Grund, warum du noch in Leningrad bist!
Bevor er anfangen konnte, hörte er ein leises Pochen an der Tür. Es war Nina, die stundenlang fort gewesen war, um nach Brot anzustehen. Sie sah ihn prüfend an. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich habe gerade mit Sollertinski telefoniert.« Zum ersten Mal bemerkte er, wie stark die Wangenknochen in ihrem schmalen Gesicht hervortraten. In letzter Zeit hatte sie ihn nicht mehr gedrängt, Leningrad zu verlassen, ja, sie redete überhaupt nicht mehr viel. Aber es war offensichtlich, dass sie jeden Tag hoffte, irgendjemand würde ihr helfen, diese spezielle Schlacht zu schlagen.
»Geht es ihm gut?« Nina betrat sein Arbeitszimmer nur selten. Es war sein Territorium, und er versuchte es so weit wie möglich vom Kuddelmuddel des Familienlebens frei zu halten. Doch jetzt kam sie zu ihm und legte den Kopf an seine Brust.
Er spürte durch den Mantel hindurch ihre Schulterblätter und die scharfen Kanten ihrer Rippen. Beschämt, ohne den Schutz seiner Arbeit, begriff er, dass dies auch seine Schuld war. Maxim machte neuerdings ins Bett, Galina fürchtete sich vor der Dunkelheit. Er war auf dem besten Weg, seine Familie zu zerstören.
»Du vermisst Sollertinski«, sagte Nina. Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ja.« Schostakowitsch tat einen tiefen Seufzer. »Ich vermisse seine Zuversicht. Ich vermisse das Leben, das wir hatten.«
Helden
Elias erwachte von dem schlimmsten Schmerz, den er je empfunden hatte. Die ganze rechte Seite seines Gesichts brannte wie Feuer. Es war, als hätte man ihm einen Draht vom Unterkiefer bis zum Ohr durch die Haut gezogen und zurrte ihn nun immer fester.
»Mist!«, sagte er, als er im Dunkeln die Augen öffnete. »Verdammter, verfluchter Mist.«
Wie auf sein Stichwort zerriss die frühmorgendliche Stille. Glocken läuteten, Sirenen schrillten. Zwei Monate zuvor war ein Lautsprecher auf den Laternenpfahl unter ihren Fenstern montiert worden. (»Wie aufmerksam«, hatte seine Mutter ausgerufen. »Die scheinen zu wissen, dass ich schwerhörig bin.«) Nun tönte aus ebendiesem Lautsprecher die wiederholte Warnung »LUFTANGRIFF! LUFTANGRIFF!« und hallte in Elias’ bereits berstendem Schädel wider.
Die Hand an die Wange gepresst, zog er sich den Mantel über den Schlafanzug. Lärm und Schmerz verbanden sich zu einem glühend heißen Flimmern. Wenn wir am Ende dieses teuflischen Krieges nicht tot sind , dachte er wütend, dann auf jeden Fall taub.
Seine Mutter in den Keller zu bringen war zunehmend schwierig geworden, da ihre Empörung mit jedem Fliegeralarm wuchs. »Die Deutschen haben einen Pakt unterzeichnet«, sagte sie. »Sie sollten unsere Freunde sein.«
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