Dirty Old Town: Ein Wyatt-Roman (German Edition)
würde die Leute fürs Erste ruhigstellen. Sein Blick glitt die Straße entlang: Auffahrten, die zu Klinkerbauten inmitten terrassenförmig angelegter Gärten führten. Der eine oder andere Wagen war dort zu sehen, aber Wyatt war mehr an dem hellblauen Camry interessiert, der mit blinkenden Warnlichtern zur Hälfte auf dem Bürgersteig stand. Er ging darauf zu.
Lydia lag mit dem Kopf auf dem Lenkrad und das Seitenfenster war zersplittert. Jede Menge Blut. Wyatt fühlte aufkommende Besorgnis, was ihm nicht gefiel und was er sofort unterdrückte. Das Rätselraten, wer oder warum, konnte warten. Wyatt handelte mit Vernunft und Fingerspitzengefühl: Er musste wissen, ob Lydia tot war oder noch lebte, und dann musste er von hier verschwinden.
Er beugte sich in den Wagen; die Belastung für die Wirbelsäule und das Anspannen des Oberkörpers verstärkten die Schmerzen, verursacht durch die Prellung an seiner Brust. Lydia hatte eine Kopfwunde; das erklärte das Blut. Eine hässliche Rinne klaffte über ihrem rechten Ohr. Sie hat Glück gehabt, dachte Wyatt. Sie musste die Gegenwart des Schützen am Seitenfenster gespürt und den Kopf zur Seite gedreht haben. Vielleicht hatte das Glas den Lauf der Kugel verlangsamt und abgelenkt. Der Knall, die Glassplitter und das viele Blut hatten den Schützen überzeugt, dass der Job erledigt sei. Wyatt fühlte Lydias Puls: Er ging stark und regelmäßig.
Aber sie war nicht bei Bewusstsein, verlor Blut, und ließe er sie hier zurück, so seine Vermutung, würde die Polizei nach ihrem Eintreffen einen Rettungswagen alarmieren, man würde Lydia verarzten und anschließend würde die Fragerei beginnen: Wer hat auf Sie geschossen? Was hatten Sie in der Nähe des ausgebrannten Audi von Henri Furneaux verloren? Über kurz oder lang würde sie reden. Schmerzen, Schmerzmittel, die intensiven Befragungen würden sie mürbe machen und sie würde Namen nennen.
Er sah hinüber zu den Gaffern. Bis jetzt hatten sie nichts von der Sauerei im Camry mitbekommen, also ging er zur Beifahrertür, öffnete sie und zog Lydia auf den Beifahrersitz. Zurück an der Tür auf der Fahrerseite, rief er den Leuten zu: »Wenn meine Kollegen eintreffen, sagen Sie ihnen, ein Wagen sei von der Straße abgekommen und unten zwischen den Bäumen gelandet. Das Feuer ist zu heftig, als dass man noch jemand retten könnte.«
Sie starrten ihn mit hängenden Kinnladen an. Er öffnete die Tür, setzte sich hinter das Steuer und fuhr davon.
***
Wyatt fuhr mit dem Camry auf den Stellplatz, der für sein Apartment im ersten Stock reserviert war, nahm Lydias Umhängetasche, stieg aus und ging auf die andere Seite, zur Beifahrertür. Er setzte Lydia auf die Kante des Sitzes, hievte sie in einer einzigen Bewegung auf seine Schulter und trug sie zum Lastenfahrstuhl. Es war schummrig in der Tiefgarage und stank nach Abgasen. Später Vormittag mit niemandem in der Nähe. Als sich die Türen öffneten, betrat er den Lift, drehte sich um und drückte den Knopf für den achten Stock, wo sich sein zweites Apartment befand. Er achtete darauf, nirgendwo Blut zu hinterlassen. Zwar war sein Oberkörper voll damit, aber er bemühte sich, dass nichts auf die Türen oder Wände des Fahrstuhls gelangte.
Im achten Stock öffnete sich die Tür mit einem Ping! und als Erstes streckte Wyatt den Kopf heraus, um sich einen schnellen Überblick über beide Seiten des Flurs zu verschaffen. Menschenleer. Er trug Lydia in sein Apartment, direkt in sein Schlafzimmer. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er noch immer die kugelsichere Weste trug. Er zog sie aus. Es war eine spürbare Erleichterung, wenn auch die Brust noch immer schmerzte. Als Nächstes holte er sich ein feuchtes Tuch, Verbandszeug, eine antiseptische Salbe und säuberte Lydias Wunde. Es war ein langer, tiefer Riss, bis hinunter auf den Schädelknochen, und das Blut floss nur so. Er legte eine dicke Kompresse an, doch das Material war bereits rot von Blut, bevor er Lydia die kugelsichere Weste, Schuhe und Jeans ausgezogen hatte. Sie lag da, bekleidet mit ihrem Höschen und einem blutigen T-Shirt, schlaff, bewusstlos, aber sie atmete regelmäßig. Er deckte sie mit der Bettdecke zu, zog sie hinauf bis zu Lydias Kinn.
Jetzt hatte er Zeit zum Nachdenken.
Erstens: Solange nicht alles geklärt war, war das Apartment, das er bisher bewohnt hatte, tabu. Eddie kannte es und könnte womöglich den Schützen dorthin schicken, genau das Szenario, weswegen Wyatt sich ein weiteres Apartment im selben
Weitere Kostenlose Bücher