Doberstein & Rubov 01 - Feuerfrauen
das wieder für ein Spielchen?«, schritt Sina ein. »Wollen Sie sich erst mal gemütlich einen Tee kochen oder was?«
Koenig hatte die Tür erreicht und drückte die Klinke. »Mein Archiv. Ich muss einige Unterlagen holen.«
Seine Stimme klang hell, freundlich und aufgeschlossen. Auch sein Gang war, wie Sina misstrauisch bemerkt hatte, nicht mehr schwer und schleppend, sondern behände und leicht.
»Es dauert nur einige Sekunden. Haben Sie Geduld mit mir«, bat Koenig beim Verlassen des Büros und schloss hinter sich die Tür.
»Na toll!«, sagte Sina spöttisch. »Wir können nicht mehr länger warten.«
»Er sagt doch, dass es nur ein paar Sekunden dauert. Sei nicht so ungeduldig«, beschwichtigte Gabriele.
»Auch Geduld erschöpft sich irgendwann einmal. Dieser Kerl regt mich auf«, schimpfte Sina. Um den aufgestauten Druck loszuwerden, ließ sie ihre Handfläche auf den Schreibtisch sausen. »Von so ’nem alten Nazi hätte ich mehr Zack erwartet.«
»Sina!«, tadelte Gabriele. »Er ist nicht mehr der Jüngste – und ein überzeugter Nazi muss er nicht unbedingt gewesen sein. Außerdem ist in den letzten Minuten seine heile Welt, die er sich in den vergangenen 50 Jahren aufgebaut hat, wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Vollzieh diesen Prozess mal nach, Sina. So etwas muss den stärksten Charakter umhauen.«
»Mach keine schlechten Witze, Gabi.« Sina ging gereizt auf und ab. Ihr Blick glitt fahrig durch den Raum, dann kramte sie gedankenverloren in ihrer Handtasche. Schließlich blickte sie voller Ungeduld auf ihre Armbanduhr. »Wo bleibt er denn?«, fragte sie und fügte schneidend hinzu: »Der Opa hat wohl nicht kapiert, wie eilig die Sache ist!« Sie überlegte noch einige Augenblicke hin und her, stürmte dann entschlossen auf Koenigs Archiv zu. Sie riss die Tür auf.
»Sina! Was ist?«, rief ihr Gabriele hinterher.
Sina stand wie angewurzelt im Türrahmen. Durch ihre Haare fegte ein kräftiger Wind. Papierblätter wehten umher.
»Sina! Was ist passiert?«, fragte Gabriele, ahnte aber bereits die bittere Wahrheit.
»Das hätte nicht passieren dürfen. Das hätten wir ahnen können«, sagte Sina, ohne sich umzudrehen.
Gabriele kam näher, spähte durch die Tür ins Nebenzimmer. Sie sah das weit geöffnete Fenster – und den Schemel, der direkt unter die Fensterbank geschoben wurde. »Wir wussten nichts, Sina! Rede nicht einen solchen Unsinn. Wir sind keine Hellseher!«
Sina bewegte sich wortlos auf das offenstehende Fenster zu und sah hinunter. Sie starrte auf eine Gruppe von Menschen direkt unterhalb des Fensters. Weitere, von hier oben aus betrachtet zwergenhaft klein, strömten zusammen. »Dieser Narr. Er hat es tatsächlich getan.«
Auch Gabriele beugte sich vor, schreckte aber sofort zurück. Ihr wurde augenblicklich schwindelig. »Mein Gott!«
»Das war unsere letzte Chance, Gabi. Unsere allerletzte Hoffnung.« Sina beobachtete, wie sich zwei Figuren aus der Menschenmenge herauslösten. Sie entfernten sich einige Meter, blieben dann stehen. Sina bemerkte, wie eine der beiden Personen mit dem Arm in ihre Richtung zeigte. Blitzartig schnellte ihr Kopf zurück. »Auch das noch! Sie haben uns entdeckt!«
Gabriele, völlig ergriffen von der eben durchlebten Tragödie, blickte sie verstört an.
»Bloß weg!«, bekräftigte Sina. »Vom Gefängnis aus können wir New York erst recht nicht retten!« Erst als sie sich umdrehte, bemerkte Sina das kleine Diktafon, das auf dem Boden direkt neben dem Schemel vorm Fenster lag. Sie schnappte es sich geistesgegenwärtig und folgte ihrer Freundin, die bereits zurück ins Büro geeilt war.
51
Sie hasteten an den Sekretärinnen vorbei und zwangen sich dabei zu lächeln. Dann hinaus auf den Flur. Vorbei an der Ahnengalerie. Einer der beiden Fahrstühle hielt auf ihrem Stockwerk. Gabriele und Sina stiegen ein und drückten sofort die Erdgeschosstaste. Die beiden ließen die Tür schließen, obwohl eine Dame in einem blauen Kostüm hektisch hinterherwinkte und gestikulierte, dass sie mitkommen mochte. Die Freundinnen hörten sie fluchen, während der Lift sich in Bewegung setzte.
Gabriele drückte unvermittelt eine andere Etagentaste. »Im Foyer wartet bestimmt die Polizei«, begründete sie. Die Tür ging auf. Dritter Stock. Die Frauen stürmten hinaus und folgten einem schnurgeraden, fensterlosen Gang. Sie erreichten einen Flur, offenbar der Durchgang zu einem anderen Gebäudeteil. Die Frauen liefen durch zwei Brandschutztüren und fanden sich dann
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