Doberstein & Rubov 01 - Feuerfrauen
kaum noch zu. Wie in Trance sah Sina sich um, drehte sich dabei immer wieder um die eigene Achse. Überall tickende Geräte, wild flackernde Lämpchen, hektisch ausschlagende Zeiger. Sie versuchte, die vielen Eindrücke zu sortieren. Versuchte, dem Chaos einen Sinn abzugewinnen. Die Computergrafik, die Sendeanlage, die alte Nazikladde, das Stichwort ›Kolumbus‹. Sina wurde bleich. Ja, das war es! Der Groschen war gefallen! Sie sank Halt suchend auf einen Stuhl.
»Was ist? Hat dich der Schlag getroffen?« Gabriele bemerkte sofort, dass Sina ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf gegangen sein musste. Sie sah es ihr an, dass sie durch irgendetwas tief bewegt war.
»Ich …« Sina stockte. »Ich habe den letzten großen Trumpf des untergehenden Nazi-Regimes ausgespielt. – Ich habe die Vergeltungswaffe ausgelöst.«
42
Gabriele verlor die Geduld. Sie zitterte vor Anspannung: Erst die unfreiwillige Gefangenschaft in dieser klammen Höhle. Dann der Streit mit Sina. Der ganze Ärger mit der verrücktspielenden Technik. Und ausgerechnet an so einem durch und durch verkorksten Tag musste Sina in eine Krise stürzen und sich mit Selbstzweifeln plagen. »Sina, Schätzchen, beruhige dich. Es ist ja nichts passiert.«
Sina sprang auf. »Ich habe sie ausgelöst! Die Bombe!« Sie deutete mit düsterer Miene nach oben. »Die Nazibombe!«
Gabriele redete beschwörend auf sie ein: »Reiß dich zusammen! Deine Fantasie geht mit dir durch!«
»Mein Gott, all diese Menschen!«, rief Sina verzweifelt. »Wir – wir müssen das Ding stoppen!«
»Wen stoppen?«
»Verstehst du noch immer nicht?« Sina lief zum Schreibtisch, aus dem sie die Kladde mit den handgeschriebenen Notizen über Raketentests genommen hatte. Sie griff erneut danach und blätterte darin herum. »Hier! Begreif doch! Vor 50 Jahren: Die Nazis schicken den ersten Satelliten ins All. Wozu wohl? Zur Wetterbeobachtung? Nein, bestimmt nicht. V2 transportierten nur eines: Sprengstoff! Bomben!« Sina schluckte. »Und – und Kolumbus steht natürlich für Amerika. Für das Ziel der Bombe. Für New York!«
Gabriele spürte, dass ihr die Situation vollends aus den Händen glitt. Sie unternahm einen letzten Versuch, beschwichtigend auf Sina einzuwirken. Tröstend und vernunftbetont sagte sie: »Sina. Das ist Schnee von gestern.« Sie nahm ihr die Kladde aus der Hand, klappte sie demonstrativ zu. »Außerdem: Hier steht doch, dass der Versuch schiefgegangen ist. Dieses Ungetüm – wenn es denn je wirklich existierte – geriet außer Kontrolle! Hast du mir selbst vorgelesen. Es ist verschwunden, Sina. Weg! Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Eben nicht«, konterte Sina aufbegehrend. »Im All geht nichts verloren! Irgendwo da draußen kreiste es die ganzen Jahre um die Erde. Keiner konnte es finden – weil ja keiner von ihm wusste und deshalb auch niemand danach suchte.« Sie fluchte: »Nur diese fünf Dunkelmänner haben es rausgekriegt! Wie auch immer.«
»Sina, Kind, was spinnst du dir da für ein Zeug zusammen? Das ist reiner Irrwitz!«
»Ich spinne nicht! Schau dich um! Wenn du keine Tomaten auf den Augen hättest, dann würdest du erkennen, was das hier für eine Funktion hat. Wir sitzen mitten in der Leitzentrale, Gabi! In der Leitzentrale der fliegenden Bombe!«
Bei Gabriele dämmerte es allmählich. Sie konnte nicht leugnen, dass Sinas Erklärungen eine gewisse Unruhe in ihr auslösten. Auch sie war schließlich in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. Trotzdem: Noch einmal versuchte sie, der Sache eine andere Wendung zu geben: »Aber das kann doch gar nicht sein, dass eine Rakete herrenlos durch den Orbit schwirrt und es keinem auffällt. Es gibt doch Überwachungsanlagen, die das längst gemeldet hätten!«
Sina nickte gequält: »Der Raketenkopf wurde natürlich sicher längst erfasst. Die Amerikaner beobachten alle Himmelskörper ab 30 Zentimetern Durchmesser ja schon seit Mitte der 60er-Jahre. Aber er ist wohl irrtümlich als harmloser Weltraumschrott unbekannter Herkunft eingestuft worden. Wer sollte denn etwas von einer Nazi-Rakete dort oben ahnen?« Sie raufte sich die Haare. »Außerdem kreist er aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Umlaufbahn, die sich nicht mit der geostationären Bahn der meisten Satelliten überschneidet. Er ist für die Beobachter also schlichtweg uninteressant.«
Gabriele wollte es noch immer nicht wahr haben: »Aber diese Anlage funktioniert nicht. Das haben die Männer selbst gesagt!«
»Jetzt funktioniert sie!
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