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Doch die Sünde ist Scharlachrot

Doch die Sünde ist Scharlachrot

Titel: Doch die Sünde ist Scharlachrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Elizabeth
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Metern. Darunter bildeten Muscheln schwarze Bouquets, hier und da durchzogen von den vielfarbigen Mustern kleinerer Krustentiere.
    Als das Streichholz heruntergebrannt war, entzündete Lynley ein zweites. Er und Daidre wagten sich tiefer in die Höhle hinein, stiegen über Gesteinsbrocken hinweg, während der Höhlenboden sacht anstieg, sodass das Wasser bei Ebbe zurückfließen konnte. Sie kamen zu einem flachen Alkoven, dann zu einem weiteren, wo das unablässige rhythmische Tröpfeln von Wasser zu hören war. Der Geruch war urzeitlich: Hier konnte man sich mühelos vorstellen, dass alles Leben aus dem Meer gekommen war.
    »Wundervoll, nicht wahr?«, fragte Daidre gedämpft.
    Lynley antwortete nicht. Er dachte darüber nach, welchen Zwecken ein Ort wie dieser im Laufe der Jahrhunderte gedient haben mochte. War es ein Schmugglerversteck gewesen? Ein Liebesnest? Eine Piratenhöhle für spielende Kinder? Zufluchtsstätte vor plötzlichen Regengüssen? Doch ganz gleich wozu man diese Höhle benutzte, man musste über die Gezeiten Bescheid wissen. Wer sie hier außer Acht ließ, forderte das Schicksal heraus.
    Daidre stand schweigend an seiner Seite, während er das nächste Streichholz anriss. Er stellte sich vor, wie ein Junge in dieser oder irgendeiner anderen Höhle von der Flut überrascht wurde. Betrunken, bekifft, vielleicht ohnmächtig, und wenn nicht ohnmächtig, dann im Vollrausch. Letzten Endes spielte es keine Rolle. Wenn er bei Dunkelheit weit genug ins Innere vorgedrungen war, hatte er wahrscheinlich nicht einmal entscheiden können, in welche Richtung er vor dem Wasser fliehen sollte.
    »Thomas?«
    Das Streichholz flackerte, als er sich zu Daidre umwandte. Das Licht warf einen Schimmer auf ihre Haut. Eine Strähne hatte sich aus der Spange befreit, mit der sie das Haar im Nacken zusammenhielt, und sie fiel ihr auf die Wange und umspielte ihre Lippen. Ohne nachzudenken, strich er sie von ihrem Mund zurück. Ihre Augen – ungewöhnlich braun wie die seinen – schienen sich zu verdunkeln.
    Plötzlich ging ihm auf, was ein Augenblick wie dieser bedeutete. Die Höhle, das schwache Licht, ein Mann und eine Frau. Kein Betrug, sondern eine Bejahung. Das Wissen, dass das Leben irgendwie weiterging.
    Dann verbrannte das Streichholz ihm die Finger. Hastig ließ er es fallen. Der Moment war vorüber, so schnell, wie er gekommen war, und Lynley dachte wieder an Helen. Er spürte ein Brennen in seinem Innern, weil er die Erinnerung nicht fand, die dieser Augenblick so zwingend erforderte: Wann hatte er Helen zum ersten Mal geküsst?
    Er wusste es nicht mehr und – schlimmer noch – verstand nicht, warum er es nicht wusste. Er hatte sie schon Jahre vor ihrer Heirat gekannt. Sie waren sich begegnet, als sein bester Freund sie während der Trimesterferien mit nach Cornwall gebracht hatte. Hatte er sie da geküsst – ein flüchtiger Wangenkuss zum Abschied am Ende der Ferien? Eine Geste, die nur besagte: »Es war schön, dich kennenzulernen«, bedeutungslos damals, aber heute von enormer Wichtigkeit? Er spürte die Notwendigkeit, dass er sich an jede Einzelheit von Helen erinnerte. Es war der einzige Weg, sie zu bewahren und der gähnenden Leere etwas entgegenzusetzen. Und darum ging es: die gähnende Leere zu bekämpfen. Wenn er erst einmal hineingeriete, wusste er, wäre er verloren.
    »Wir sollten gehen«, sagte er schließlich. »Können Sie uns hinausführen?«
    »Natürlich. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.«
    Sie bewegte sich mit Selbstsicherheit, strich leicht mit einer Hand über die Oberfläche der Mollusken. Er folgte ihr und spürte seinen Puls hinter den Augen hämmern. Er wusste, er musste irgendetwas sagen, darüber, was sich eben zwischen ihnen abgespielt hatte, musste sich Daidre in irgendeiner Weise erklären. Aber er fand keine Worte, und selbst wenn er das Vokabular besessen hätte, um ihr das Ausmaß seiner Trauer und seines Verlusts begreiflich zu machen, war es doch garnicht nötig. Denn sie war diejenige, die das Schweigen brach als sie die Höhle verließen und sich auf den Rückweg zum Wagen machten.
    »Thomas, erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«
    »Was wollen Sie wissen?«
    Sie zögerte. Ein gütiges Lächeln lag auf ihren Lippen. »Was immer Sie mir erzählen wollen.«

16
    Am nächsten Morgen ertappte Lynley sich dabei, dass er unter der Dusche summte. Das Wasser rauschte über seinen Kopf und den Rücken, und er war mitten in Tschaikowskys Dornröschen-Walzer, als er abrupt

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