Doch die Sünde ist Scharlachrot
den Blick auf den Parkplatz gerichtet, während Selevan weiter über seine Enkelin sprach. Tammy hatte ihren eigenen Kopf, schien es, und nichts konnte sie von dem Kurs abbringen, den sie eingeschlagen hatte. »Man muss das Mädchen dafür bewundern«, räumte Selevan ein. »Vielleicht sind wir alle zu hart zu ihr gewesen.«
Daidre brummelte an den richtigen Stellen Zustimmung, aber sie konzentrierte sich vollauf auf das Wenige, was sie draußen beobachten konnte. Die Fahrerin des verschrammten Mini hatte Lynley angesprochen. Es handelte sich um eine unförmige Frau in ausgebeulter Kordhose und einer Steppjacke, die sie bis zum Kinn zugeknöpft hatte. Die Unterhaltung dauerte nur einen Moment. Die Frau ruderte ein wenig mit den Armen, was auf eine Debatte bezüglich Lynleys Fahrstil hinzudeuten schien.
Dann bog hinter ihnen Jago Reeths Defender in den Parkplatz ein. »Da kommt Mr. Reeth«, verkündete Daidre.
»Dann geh ich mal lieber unseren Platz reservieren«, erwiderte Selevan, erhob sich und schlenderte zur Kaminecke hinüber.
Daidre sah weiter aus dem Fenster. Lynley und die Frau verstummten, als Jago Reeth aus dem Wagen stieg. Reeth nickte ihnen höflich zu – von einem Pubbesucher zum anderen – und ging auf die Tür zu. Lynley und die Frau wechselten noch ein paar Worte, und dann trennten sie sich.
Daidre signalisierte Brian, sie wolle den Tee bezahlen, den sie getrunken hatte, um die Wartezeit zu verkürzen. Als sie schließlich den Durchgang zum Hotel betrat, saßen Jago Reeth und Selevan Penrule bereits in ihrer Kaminecke, die Frau vom Parkplatz war verschwunden, und Lynley selbst war offenbar zu seinem Wagen zurückgegangen, um einen verbeulten Pappkarton daraus hervorzuholen. Damit kam er nun ins Gasthaus. Daidre stand an der schlecht beleuchteten Rezeption. Sie fröstelte; hier war es kälter als in der Bar, vermutlich wegen des unebenen Steinfußbodens und weil die Haustür immer wieder offen stand. Ihr ging auf, dass sie ihren Mantel im Schankraum gelassen hatte.
Lynley entdeckte sie sofort. Lächelnd sagte er: »Hallo. Ich habe Ihren Wagen draußen gar nicht gesehen. Wollten Sie mich überraschen?«
»Ihnen auflauern. Was haben Sie denn da?«
Er sah auf den Karton in seinen Armen hinab. »Alte Ermittlungsakten. Oder vielmehr: die Akten eines alten Ermittlers. Na ja, irgendwie beides, schätze ich. Er ist Rentner und lebt unten in Zennor.«
»Sie waren heute in Zennor?«
»Dort und in Newquay. Und in Pengelly Cove. Ich bin heute Morgen bei Ihnen vorbeigefahren und wollte Sie zu dem Ausflug einzuladen, aber Sie waren nicht zu Hause. Haben Sie eine kleine Spritztour gemacht?«
»Ich fahre gern hier in der Gegend herum«, antwortete Daidre und nickte. »Das ist einer der Gründe, warum ich hierherkomme, wann immer ich kann.«
»Verständlich. Ich finde es auch sehr schön.«
Er stützte den Karton auf der Hüfte ab, auf diese männertypische Art – so ganz anders, als Frauen einen sperrigen Gegenstand hielten, dachte sie. Er betrachtete sie. Er sah besser aus als vor vier Tagen. Es war ein schwacher Funke Leben in ihm zu erkennen, der zuvor nicht da gewesen war. Sie fragte sich, ob es etwas damit zu tun hatte, dass er wieder in eine polizeiliche Ermittlung eingebunden war. Vielleicht war das etwas, was einen lebendig machte: die intellektuelle Herausforderung, das Rätsel eines Verbrechens zu lösen, und die physische Erregung der Jagd.
»Sie haben Arbeit zu erledigen.« Sie zeigte auf den Karton. »Ich hatte gehofft, Sie kurz sprechen zu können, falls Sie Zeit haben …«
»Wirklich?« Er zog eine Braue in die Höhe. Und wieder dieses Lächeln. »Natürlich können Sie mich sprechen. Lassen Sie mich das hier eben wegbringen. Wir treffen uns … in der Bar? In fünf Minuten?«
Jetzt da Jago Reeth und Selevan Penrule dort saßen, wollte sie nicht dorthin zurück. Obendrein würden mit jeder Minute weitere Stammgäste eintreffen, und Daidre war nicht sonderlich versessen darauf, dass über ihre vertrauliche Unterhaltung mit dem Detective von Scotland Yard getratscht wurde.
»Mir wäre ein etwas weniger öffentlicher Ort lieber«, gestand sie. »Können wir …?« Abgesehen vom Restaurant, dessen Türen noch verschlossen waren und dies auch für mindestens eine weitere Stunde bleiben würden, gab es nur eine naheliegende Option: sein Zimmer.
Er schien zu demselben Schluss zu gelangen. »Kommen Sie doch mit nach oben«, schlug er vor. »Mein Domizil hier ist zwar ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher