Doch die Sünde ist Scharlachrot
Spannung zu knistern. Es sah fast wie eine Verlegenheitsgeste aus, als Sergeant Havers ihr Notizbuch hervorholte und es aufschlug. Bea rechnete schon damit, dass Reeth sie auffordern würde, es wieder wegzustecken, doch stattdessen nickte der alte Mann und sagte: »Ich habe nichts dagegen.« Und an Kerne gewandt: »Sie?« Als Ben den Kopf schüttelte, fügte Jago hinzu: »Meinetwegen könnten Sie sogar verwanzt sein, Inspector. Eine Situation wie diese muss schließlich dokumentiert werden.«
Er hatte wirklich an alles gedacht. Doch noch hoffte Bea darauf, einen Winkel zu erkennen, zu hören oder zu spüren, den er vergessen hatte zu berücksichtigen. Es musste ihn geben, und sie wollte bereit sein, sich darauf zu stürzen, wenn er zutage trat.
»Fahren Sie fort«, sagte sie.
»Aber es ist noch schlimmer, wenn man einen Sohn verliert«, sagte Jago Reeth zu Ben Kerne. »Anders als eine Tochter trägt der Sohn den Namen weiter. Er ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und letzten Endes ist es weit mehr als nur der Name. Er trägt den Sinn von allem in sich. Den Grund hierfür …« Er sah sich in der Hütte um, als enthielte sie die ganze Welt und die Milliarden von Leben auf dieser Welt.
»Ich bin nicht sicher, ob es für mich diese Unterscheidung gibt«, erwiderte Ben Kerne. »Jeder Verlust … eines Kindes … ganz gleich welches Kindes …« Er räusperte sich und verstummte dann.
Jago Reeth wirkte zufrieden. »Einen Sohn durch Mord zu verlieren, ist jedenfalls entsetzlich, nicht wahr? Die Tatsache seiner Ermordung ist fast so schlimm, wie den Namen des Mörders zu kennen, aber keinen Finger rühren zu können, um den verdammten Scheißkerl seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
Kerne blieb stumm. Auch Bea und Barbara Havers schwiegen. Nach einer Weile stellte Kerne den Teebecher, von dem er keinen Schluck genommen hatte, behutsam auf die Erde. Aus dem Augenwinkel sah Bea, dass Havers an ihrer Seite sich regte.
»Das ist furchtbar«, fuhr Jago fort. »Genau wie die Ungewissheit.«
»Ungewissheit in Bezug worauf, Mr. Reeth?«, fragte Bea.
»In Bezug auf die Hintergründe der Tat. Auf den Hergang. Ein Mann kann den Rest seines Lebens damit verbringen, sich nachts schlaflos im Bett zu wälzen und zu rätseln, zu fluchen und zu wünschen. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine. Wenn Sie es jetzt noch nicht wissen, werden Sie es jedenfalls herausfinden. Es ist die Hölle auf Erden, und es gibt kein Entkommen. Ich fühle mit Ihnen, Mann. Bei dem, was Sie jetzt durchmachen, und bei dem, was noch kommen wird.«
»Danke«, sagte Ben Kerne leise. Bea sah seine weißen Knöchel und musste ihn für seine Beherrschung bewundern.
»Ich kannte Ihren Santo. Netter Junge. Ein bisschen großspurig, wie alle Jungen in dem Alter, aber nett. Und seit diese Tragödie passiert ist …«
»Seit er ermordet wurde«, verbesserte Bea ihn.
»Mord ist eine Tragödie, Inspector«, entgegnete Reeth. »Selbst wenn ihr Polizisten einen Mordfall für eine Schnitzeljagd halten mögt. Es ist eine Tragödie, und wenn sie einen trifft, besteht die einzige Hoffnung auf Frieden darin zu wissen, was passiert ist, und auch anderen die Wahrheit mitteilen zu können. Falls Sie wissen, was ich meine«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu. »Und weil ich Santo kannte, habe ich mir wieder und wieder den Kopf darüber zerbrochen, was dem Jungen passiert sein könnte. Und ich habe beschlossen, wenn ein alter, abgehalfterter Knacker wie ich Ihnen ein bisschen Frieden geben kann, Mr. Kerne, dann bin ich es Ihnen schuldig.«
»Sie schulden mir überhaupt nichts …«
»Wir alle schulden einander etwas«, fiel Jago ihm ins Wort. »Das zu vergessen, ist es, was uns die Tragödien beschert.« Er hielt inne, als wolle er diesen Worten besonderen Nachdruck verleihen. Er leerte seinen Becher und stellte ihn neben sich auf die Bank. »Was ich darum tun will, ist, Ihnen zu sagen, was meiner Meinung nach mit Ihrem Jungen passiert ist. Denn ich habe darüber nachgedacht, verstehen Sie, und ich bin sicher, das haben Sie auch, genau wie die Cops hier. Wer würde einem so netten Jungen so etwas antun?, habe ich mich tagelang gefragt. Und wie hat er es angestellt? Und warum?«
»Aber nichts von alldem bringt Santo zurück, oder?«, fragte Ben Kerne.
»Natürlich nicht. Aber das Wissen … es letzten Endes voll und ganz zu verstehen … Ich wette, darin liegt Frieden, und den habe ich Ihnen zu bieten. Frieden. Also hier ist, was
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