Doch die Sünde ist Scharlachrot
Vorstellung ein Orchester zum Besten gab, während weiß behandschuhte Kellner winzige Sandwiches auf Silbertabletts herumreichten. Er stellte sich die Tänzer vor, meinte fast, ihre Geister sehen zu können, und spürte ein schmerzliches Bedauern über das Verrinnen der Zeit. Gleichzeitig fühlte er sich seltsam getröstet. Menschen kamen und gingen im King-George-Hotel, aber die Erde drehte sich weiter.
Dieses Mal verschwendete er im Geräteraum jedoch keinen Gedanken an den Tanztee der Dreißigerjahre. Er stand vor einer Schrankreihe und hatte eine der Türen geöffnet. Üblicherweise hing hier Kletterausrüstung an diversen Haken, lag ordentlich in Plastikbehältern oder zusammengerollt auf den Regalen. Seile, Gurte, Schlingen, Friends und Grigris, Klemmkeile, Karabiner … alles Mögliche. Seine eigene Ausrüstung bewahrte er an einem anderen Ort auf, denn es war ihm zu lästig, hier herunterzukommen, wenn er einmal einen freien Nachmittag zum Klettern hatte. Hier hatte Santos Equipment gelagert, und Ben selber hatte voller Stolz ein Schild an die Schranktür geklebt: »Bitte nicht benutzen!« Trainer und Gäste sollten wissen, dass diese Ausrüstung heilig war. Sie hatte über drei Weihnachtsbescherungen und vier Geburtstage einen stattlichen Umfang erreicht.
Doch jetzt war der Schrank leer. Ben wusste, was das bedeutete. Die fehlende Kletterausrüstung war Santos Abschiedsnachricht an seinen Vater. Ben spürte die Monstrosität dieser Nachricht, ihre Bürde, und ihm wurde erschreckend klar: Seine eigenen Worte hatten dies heraufbeschworen – Worte, die er gedankenlos ausgesprochen hatte, getrieben von sturer Selbstgefälligkeit. Trotz aller Bemühungen, trotz der Tatsache, dass er und Santo nicht verschiedener hätten sein können, sowohl was ihr Erscheinungsbild als auch den Charakter betraf, trotz alledem hatte die Geschichte sich wiederholt, jedenfalls in ihrer äußeren Beschaffenheit, wenn auch nicht in ihrer Substanz. Seine eigene Geschichte sprach von falschen Entscheidungen, Verbannung und Jahren der Entfremdung. Santos hingegen sprach nun von Denunziation und Tod. Nicht in Worten, sondern mit der offenen Zurschaustellung seiner Enttäuschung hatte Ben die Frage herausgeschleudert, so deutlich, als hätte er sie geschrien: Was für ein Jammerlappen bist du nur, dass du so etwas tun konntest? Und du willst ein Mann sein?
Natürlich hatte Santo diese ungestellte Frage genau verstanden und so reagiert, wie jeder Sohn eines jeden Vaters reagiert hätte, nämlich mit der Empörung, die ihn schließlich auf die Klippen hinausgetrieben hatte. Ben selbst hatte auf seinen Vater im gleichen Alter in gleicher Weise reagiert: Ausgerechnet du willst mir erklären, was es heißt, ein Mann zu sein? Ich zeig dir, was ein Mann ist.
Während das oberflächliche Warum ihrer Auseinandersetzung nicht ergründet werden musste, weil Santo genau wusste, was dahintersteckte, blieb der wahre Grund dafür unerforscht. Es wäre viel zu furchteinflößend gewesen, ihn verstehen zu wollen. Stattdessen hatte Ben sich lediglich wieder und wieder vorgebetet, dass Santo eben einfach der war, der er war.
»Es ist einfach so passiert«, hatte Santo seinem Vater gestanden. »Hör mal, ich will nicht …«
»Du?«, hatte Ben ihn ungläubig unterbrochen. »Den Rest kannst du dir sparen, denn was du willst, interessiert mich nicht. Was du getan hast, hingegen schon. Was du zustande gebracht hast. Das Ergebnis deiner verdammten Selbstsucht …«
»Warum regst du dich eigentlich so auf? Was kümmert es dich? Wenn es etwas zu regeln gegeben hätte, hätte ich das getan, aber das war ja überhaupt nicht der Fall. Es gibt nichts. Nichts. Okay?«
»Menschliche Wesen regelt man nicht«, hatte Ben entgegnet. »Sie sind keine Maschinen. Keine Handelsware.«
»Du verdrehst mir das Wort im Mund.«
»Und du verdrehst das Leben anderer Menschen.«
»Das ist ungerecht. Das ist so was von ungerecht!«
So wie Santo das ganze Leben ungerecht finden würde, war es Ben durch den Kopf gefahren. Nur hatte er nicht lange genug gelebt, um das herauszufinden. Und wessen Fehler ist das, Benesek?, fragte er sich. War der Moment den Preis wert, den du nun zahlst?
Jener Moment hatte aus einer einzigen Bemerkung bestanden, die teils der Zorn, vor allem jedoch die blanke Angst hervorgebracht hatte: »Ungerecht ist es, ein wertloses Stück Dreck zum Sohn zu haben.« Einmal ausgesprochen, hingen die Worte da wie schwarze Farbe, die über eine weiße Wand
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