Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
sehen einsam aus«, sagte sie stattdessen.
Er lachte zum ersten Mal, und seine Augen wirkten nicht mehr so kalt. »Du bist ein seltsames Mädchen und ziemlich erwachsen für dein Alter. Wie sieht denn jemand aus, der einsam ist?«
»Als ob er niemanden hätte, dem etwas an ihm liegt«, sagte sie und dachte an Jimmy und wie sein Gesicht aufgeleuchtet hatte, als sie ihm sagte, sie würde gern seine Freundin sein. Ob er Mog wohl gefragt hatte, wo Belle war? Und falls er wusste, dass man sie entführt hatte, machte er sich Sorgen um sie?
»Manchmal fühle ich mich einsam, aber das geht jedem so«, sagte Etienne.
»Bei mir daheim war eine Dame, die sich um mich kümmerte, als ich klein war. Sie hat gesagt, dass es gut ist, sich manchmal einsam zu fühlen, weil man dann besser zu schätzen weiß, was man hat«, sagte Belle. »Ich habe nichts von allem zu schätzen gewusst, bis ich von der Straße weg entführt wurde. Jetzt kann ich nur noch an zu Hause denken, und dabei fühle ich mich noch einsamer.«
»Du bist von der Straße weg entführt worden?« Etienne runzelte die Stirn und sah sehr überrascht aus.
Belle hatte angenommen, dass er alles über ihren Hintergrund und die Gründe, warum sie in Frankreich war, wusste. Dass er keine Ahnung davon hatte, bestärkte sie in der Hoffnung, sein Mitgefühl wecken zu können.
»Ja. Ich war Zeugin eines Mordes, und der Mann, der ihn begangen hat, entführte mich nach Frankreich. Ich wurde an ein Bordell verkauft und fünfmal vergewaltigt, bevor ich krank wurde. Anscheinend hat mich die Madame dieses Hauses weiterverkauft, und meine neuen Besitzer, für die Sie offenbar arbeiten, haben mich wieder gesund pflegen lassen.«
Er wirkte leicht erschüttert.
»Sie brauchen gar nicht so zu tun, als wäre das alles neu für Sie. Sie müssen gewusst haben, was ich durchgemacht habe und was vor mir liegt«, sagte sie bitter.
»Ich stelle nie Fragen, sondern mache, was von mir verlangt wird«, sagte er. »Allerdings hat man noch nie von mir verlangt, eins ihrer Mädchen wegzubringen. Das ist das erste Mal.«
»Halten Sie es für richtig, ein junges Mädchen zu diesem Gewerbe zu zwingen?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Aber das ist meine persönliche Ansicht. Weißt du, bei meiner Art Arbeit muss ich viele Dinge tun, die ich lieber nicht täte, aber das ist Teil des Jobs. Ich habe keine andere Wahl.«
»Aber schämen Sie sich nicht, für Geld schlimme Sachen zu tun?«
Er fixierte sie einen Moment lang scharf, dann lächelte er. »Du warst bisher so ruhig und gefasst, dass ich dich für mindestens achtzehn gehalten habe, aber jetzt merke ich, dass du noch den Idealismus eines Kindes hast. Womit verdient dein Vater sein Geld? Sicher muss auch er manchmal Aufgaben übernehmen, die ihm nicht zusagen.«
»Ich weiß nicht, wer mein Vater ist«, sagte Belle ehrlich. »Aber ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Ich bin in dem Bordell aufgewachsen, das meine Mutter leitet. Manche Leute würden sagen, dass das sehr schlimm ist, aber ich weiß, dass meine Mutter niemandem wehtut und dass keins der Mädchen, die für sie arbeiten, dazu gezwungen wird.«
Er wirkte so betroffen darüber, dass sie aus derartigen Verhältnissen stammte, dass sie ihm mehr darüber erzählte. Auch, dass sie sich über die wahre Natur des Gewerbes ihrer Mutter bis zu jener verhängnisvollen Nacht, als Millie getötet wurde, im Unklaren gewesen war. »Meine Mutter hätte nie eine Hure aus mir gemacht«, schloss sie. »Sie und Mog wollten, dass ich ein ehrbares Leben führe, und nun müssen sie Todesqualen ausstehen, weil sie nicht wissen, wo ich bin oder was man mit mir gemacht hat.«
»Ich habe dir nichts getan, oder?«, bemerkte er, als wäre damit seine Rolle gerechtfertigt. »Wie deiner Mutter bleibt auch mir kaum etwas anderes übrig, als zu tun, was ich tun muss, und ich versuche immer, ein absolutes Minimum an Gewalt anzuwenden. Du bist ein kluges Mädchen, Belle. Ich weiß, dass du versuchen willst, mein Vertrauen zu gewinnen, was in einer Situation wie dieser immer die beste Strategie ist. Aber so sehr ich dich auch bedauern mag, ich muss die Befehle befolgen, die man mir gegeben hat, oder man wird mich übel zurichten oder sogar töten.«
Er sagte das so beiläufig, dass Belle klar war, dass es der Wahrheit entsprach.
In der Nacht kam Sturm auf, und das Schiff wurde auf den Wogen hin und her geschleudert wie ein Streichholz in einem reißenden Fluss. Belle verkraftete
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