Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
sie.
Er drehte sich zu ihr um und lehnte sich mit dem Rücken an die Reling. Der Wind zerzauste sein helles Haar und ließ ihn jungenhaft und kein bisschen bedrohlich aussehen. Er starrte sie eine kleine Ewigkeit an, ohne zu antworten.
»Hat die Katze Ihre Zunge geholt?«, fragte sie keck.
Er lächelte. »Diese englische Redensart habe ich noch nie verstanden. Was sollte eine Katze mit einer Zunge anfangen? Na gut, du darfst nach Hause schreiben. Aber auf der Karte darf nur stehen, dass du in New York und bei guter Gesundheit bist. Ich werde sie lesen und aufgeben.«
Belle stieß einen Freudenschrei aus. Die Postkarte würde sie nicht retten, aber immerhin würden Mog und ihre Mutter nicht mehr in der Angst leben, dass sie tot war. »Abgemacht«, sagte sie. »Ich werde nicht versuchen wegzulaufen.«
Es war schon Nacht, als das Schiff den East River hinauffuhr, um in New York anzulegen. Früher am Tag war bekannt gegeben worden, dass man am nächsten Morgen von Bord gehen würde, und was bei der Einwanderungsbehörde auf Ellis Island zu erwarten wäre. Belle hatte nur mit halbem Ohr zugehört, weil sie wusste, dass Etienne sich um alles kümmern würde. Aber als sie ihre Sachen packte, fragte sie sich, was er tun würde, wenn einer der Beamten unangenehme Fragen stellte, denn der Kapitän hatte verkündet, dass es medizinische Untersuchungen und einige Tests gäbe, bevor einem die Einreise nach Amerika erlaubt wurde.
Sie wollte sich gerade ausziehen und zu Bett gehen, als Etienne in die Kabine zurückkam.
»Wir gehen«, sagte er scharf. »Pack deine restlichen Sachen ein. Beeil dich!«
Er hatte wieder denselben harten, angespannten Ausdruck in den Augen wie bei ihrer ersten Begegnung in Brest.
»Wie denn?«, fragte sie verwirrt, als er seine Tasche unter der Koje hervorzog und seine Habseligkeiten verstaute. »Das Schiff hat doch noch nicht angelegt!«
»Jemand kommt uns abholen«, sagte er. »Los, mach schon!«
Das Schiff lag vor Anker und wartete auf den Schlepper, der bei Tagesanbruch kommen sollte. Tiefe Stille herrschte, als sie die Kabine verließen und zum unteren Deck hinaufgingen. Vermutlich packten die meisten Passagiere ihre Sachen oder legten sich früh schlafen, um am Morgen ausgeruht zu sein, dachte Belle. Etienne fasste sie am Arm und führte sie auf die Backbordseite des Decks, wo sie Unteroffizier Barker entdeckte. Der Mann hatte sich sehr freundlich um Belle gekümmert, als Etienne krank war. Jetzt verstand sie, warum. Offensichtlich wurde er dafür bezahlt, ihnen dabei zu helfen, die Einwanderungsbehörde zu umgehen.
Barker griff hastig nach ihr, schubste sie auf einen Bootsmannsstuhl und legte ihr das Gepäck auf den Schoß. Etienne sprang ebenfalls auf, stellte sich mit gespreizten Beinen über sie und hielt sich am Seil fest. Plötzlich wurde der Stuhl über die Reling gestoßen und von Barker nach unten gelassen. Der Stuhl drehte sich im kalten Wind hin und her, und Belle, die Angst hatte, ins Wasser zu fallen, schloss die Augen.
»Keine Angst«, sagte Etienne leise. »Dir passiert schon nichts. Wir sind gleich da.«
Er hatte recht. Noch während er sprach, spürte sie, wie der Stuhl das Boot erreichte. Etienne sprang hinaus und half ihr an Bord. Nach Aussehen und Geruch zu urteilen befanden sie sich auf einem Fischkutter. Der Bootsmannsstuhl wurde nach oben gezogen, und noch bevor Belle Zeit hatte, sich an das Schlingern des kleinenBoots zu gewöhnen, tuckerte es schon los und entfernte sich rasch von dem großen Dampfer.
Ein kleiner, untersetzter Mann in Ölzeug kam zu ihnen. »Ab ins Ruderhaus mit euch«, sagte er kurz. »Hockt euch auf den Boden, damit euch niemand sieht.«
Auf dem großen Dampfer war Belle während des Sturms nicht seekrank geworden, aber als man sie jetzt in eine Ecke des Ruderhauses drängte, wurde ihr ziemlich flau im Magen. Es lag nicht nur am Fischgeruch und Schwanken des kleinen Boots, sie hatte auch Angst, weil sie keine Ahnung hatte, was ihr bevorstand. Der Mann am Steuerrad sah weder in ihre Richtung, noch wechselte er ein Wort mit ihnen. Es war, als könnte er sich einreden, sie wären nicht an Bord, wenn er ihre Anwesenheit einfach ignorierte.
Belle fürchtete sich. Wenn sie illegal einreisten, was würde dann mit ihr passieren, wenn sie versuchte, das Land wieder zu verlassen? Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie Etienne nicht weggelaufen war, sondern auf seinen Vorschlag eingegangen war. Wie hatte sie so dumm sein können zu glauben,
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