Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
sie in die Arme nahm, um sie zu trösten, hatte sie gespürt, dass er etwas Besonderes war, und sie bezweifelte nicht, dass er ihr Liebster geworden wäre, wenn man sie nicht entführt hätte.
Das war fast das Schlimmste. Man hatte ihr all diese kleinen Freuden genommen: den Kuss eines Liebsten, ihre Träume, eines Tages einen Hutsalon zu besitzen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. All das war ausgelöscht und endgültig vorbei, denn es würde nie wieder einen Jungen wie Jimmy geben, der sie auf diese besondere, aber unschuldige Art ansah, die ihr verriet, dass sie das Mädchen seiner Träume war.
Als sie jetzt am Fenster stand und beobachtete, wie im fahlen Nachmittagslicht Schnee auf die Felder rieselte, vermutete sie, dass sie mindestens seit einem Monat weg war. Es musste also fast Ende Februar sein.
Sie nahm an, dass der Schneefall ihre Reise nach Amerika verzögerte. Als sie am Tag nach ihrem Gespräch mit Lisette aufgewacht war, hatte es heftig geschneit, und die Temperatur blieb drei Tage lang unter Null, so dass der Schnee nicht schmolz. Nun, da es erneut schneite, waren die Straßen wahrscheinlich nicht befahrbar.
Vielleicht hätte sie froh über diesen Aufschub sein sollen, aber sie war es nicht. Sie war in dieses Zimmer eingesperrt, das zwar sehr behaglich war, aber trotzdem an eine Gefängniszelle erinnerte. Sie wollte weg von hier, denn dann gäbe es vielleicht eine Möglichkeit zu fliehen, und alles war besser, als hier zu stehen, auf die vereisten Felder zu starren und sich zu fragen, was ihr bevorstand.
Als die Veränderung dann kam, ging es schnell, und es war beängstigend. Im einen Moment schlief sie noch, und im nächsten wurde sie von einer Frau, die sie noch nie gesehen hatte, wachgerüttelt und aufgefordert, sich anzuziehen. Draußen war es stockdunkel, und die Frau sagte ständig »Vite, vite «, während sie Belles Sachen in eine Reisetasche stopfte.
Einen kurzen Moment lang dachte Belle, die Frau hätte es so eilig, weil sie Belle retten wollte, aber diese Hoffnung erlosch bald. Als die Frau mit ihr die Treppe hinunterlief, eilte die Haushälterin, die manchmal mit Lisette in Belles Zimmer gekommen war, in die Halle und übergab einen Korb, in dem sich Reiseproviant zu befinden schien.
Bevor sie das Haus verließen, reichte man Belle einen dunkelbraunen Pelzmantel, Strickhandschuhe und eine Haube, die mit Kaninchenfell gefüttert war und ihr bis über die Ohren reichte. DieSachen sahen alt aus und rochen muffig, aber es war so kalt, dass sie trotzdem froh war, sie zu haben.
Ein Mann wartete draußen in der Kutsche, und obwohl er etwas auf Französisch zu Belles Begleiterin sagte und Belles Hand nahm, um ihr hineinzuhelfen, sprach er kein Wort mit ihr, nicht einmal, um sich vorzustellen. Es war zu dunkel, um viel von ihm zu erkennen, aber Belle hatte den Eindruck, dass er in mittleren Jahren war, weil er einen grauen Bart hatte.
Die beiden richteten während der langen Fahrt nur gelegentlich das Wort aneinander. Belle saß mit einer groben Decke über den Knien in ihren Mantel gekuschelt in einer Ecke, aber es war zu kalt, als dass sie hätte schlafen können.
Als es hell wurde, öffnete die Frau den Proviantkorb und reichte Belle ein großes Stück Brot und etwas Käse. Sie sagte etwas in scharfem Ton, und obwohl Belle kein Französisch verstand, hielt sie es für einen Befehl, alles aufzuessen, weil sie später vielleicht nichts mehr bekommen würde.
In diesem Teil Frankreichs lag weniger Schnee und es war hügeliger als die Gegend, aus der sie gekommen waren. Aber das Land schien genauso spärlich besiedelt zu sein, denn Belle konnte nur hier und da vereinzelte Häuser und Hütten entdecken. Als sie an einer Kreuzung ein Schild sah, stellte sie fest, dass die Straße, auf der sie fuhren, nach Brest führte. Sie glaubte den Namen schon einmal auf einer Landkarte Frankreichs gesehen zu haben und war sich sicher, dass er oben links gestanden hatte, am Meer. Vermutlich sollte es von dort mit dem Schiff weitergehen.
Sie versuchte angesichts der Aussicht auf eine lange Seereise mitten im Winter nicht in Panik zu geraten und malte sich stattdessen aus, an Bord einen freundlichen Seemann kennenzulernen, der sich überreden ließ, ihr zu helfen, wenn schon nicht bei einer Flucht, dann wenigstens bei der Übermittlung einer Nachricht an ihre Mutter und Mog. Dankbar nahm sie noch etwas Brot und Käse an und lächelte dem Mann und der Frau zu, in der Hoffnung, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Weitere Kostenlose Bücher