Doctor Boff - Weiberkranckheiten
Patientinnen, die, vom Schwung mitgerissen, sich unversehens im Behandlungszimmer wiederfanden, traten verschämt den Rückzug an. So setzte sich der ordnungsgemäße Ablauf durch, für den Stine garantierte. Die war das bekannte Gesicht, die sprach man an, die fragte man aus: nach dem neuen Doctor, nach dem alten Doctor, vor allem nach dem neuen Doctor. Natürlich gab es eine Frau, die mehr wusste als alle anderen. Sie hatte mit Menschen gesprochen, die den neuen Doctor lange kannten. Sie wusste, dass er zehn Könige und den Zaren vor dem Tod gerettet und an der Küste des Baltischen Meeres die Überlebenden eines Schiffsuntergangs schwimmend ans Ufer gebracht hatte, wo er einen nach dem anderen nach bester Art versorgt und so lange am Leben gehalten hatte, bis aus den Dörfern Hilfe kam. Was genau er getan hatte, um im eisigen März Wärme zu erzeugen, wusste die Frau nicht. Aber jeder im Raum stellte sich unverzüglich etwas vor, und alle sahen den neuen Doctor mit anderen Augen.
Und dann stand er vor ihnen. Genauer gesagt, stand er in der offenen Tür des Behandlungszimmers. Aber jede Frau hatte das Gefühl, er würde dicht vor ihr stehen und nur Augen für sie haben.
Er richtete das Wort an Stine und fragte: »Mit wem fangen wir an?«
Ein Raunen ging durch den Raum und den Flur. Diese Stimme. So männlich, so kundig, so erfahren, so vertrauenerweckend. Die Frau, die auf den Doctor zuging, fühlte sich schon gesund, bevor sie den Fuß in das Behandlungszimmer gesetzt hatte.
Und als man allein war, abgesehen von der jungen Frau, die seitwärts stand und aufmunternd dreinblickte, kamen die Worte von allein. Er musste einige Male fragen und die Frage wiederholen, mehr als einmal, aber dann kam ein Gespräch in Gang, die Witwe redete über ihre dunkle Wohnung, die immer kalt war, selbst im Sommer, von deren Wänden das Wasser lief, und im Raum, in dem ihr Bett stand, blühte der Schimmel an der Decke, und als ihr der Doctor verbot, dort noch eine einzige Nacht zu schlafen und auch nicht tief einzuatmen, fühlte sie sich verstanden und getröstet, und als er befahl, täglich an die frische Luft zu gehen, die Fenster aufzureißen und vor allem eine neue Wohnung zu suchen, zur Not vor der Stadt, denn Gesundheit sei wichtiger als das Leben in der Stadt, als das alles besprochen war und die junge Frau sie da und dort gedrückt und geprüft hatte, trat die Witwe vor den Doctor, und ehe er sich versah, hatte sie den Rücken seiner Hand geküsst, und als er abwehrte, zog sie das Geld aus der Tasche, und als er ihr verbot, daran auch nur zu denken, verließ sie lachend den Raum, ließ sich draußen bereitwillig ausfragen und tanzte aus dem Haus, in das sie sich vor einer Stunde mit Schmerzen in allen Gelenken geschleppt hatte.
Nun nahm der Betrieb Fahrt auf. Eine Frau nach der anderen trat an, mutig die eine, scheu und mit niedergeschlagenenAugen die andere. Aber selbst die Schüchternste riskierte einen Blick, wenn auch später als die kecken. Die sprachen den Doctor an, machten Scherze und lachten schallend, damit der Doctor merkte, in welche Richtung der Zug fuhr. Sie plauderten und beileibe nicht nur über den Grund, der sie zum Doctor geführt hatte. Zwei gaben zu, gesund zu sein. Da glaubte Boff in seiner Naivität noch, die Krankheit sei zu peinlich, um kurzerhand zugegeben werden zu können. Hermine legte Hand an und fragte die Organe ab, so lange, bis eine der Frauen rief: »Hört bloß auf, das kitzelt nur. Geht mir lieber aus der Sicht. Ich will doch nur den Doctor sehen, ob es stimmt, was alle sagen.«
Hermine warf Boff einen Blick zu, als sei hiermit der letzte Beweis für das erbracht, was Hermine ihm von Anfang an unterstellt hatte.
»Nicht wahr«, sagte Hermine kumpelhaft zur Patientin, »Ihr findet auch, er sieht fesch aus, der Doctor.«
»Das ist ein Mann«, bestätigte die Frau in einem Ton, der jeden Zweifel ausschloss. »Dagegen war unser Tänzer der Tod auf Reisen.«
Boff schickte Hermine von der Frau weg, weil es sonst kein gutes Ende genommen hätte. »Ich betreibe kein Gasthaus«, sagte er, »bei mir wird gearbeitet.«
Aber es war egal, was er sagte, er hätte auch die Zahlen bis hundert aufzählen können, die Frau hätte ihn weiter angehimmelt. Als hätten sie in Halle nur hässliche Ärzte!
Zwischendurch kam man der Normalität sehr nahe. Läuse in allen haarigen Bereichen; entzündete Hände, die so rissig waren, dass Schmutz und Fliegen sich zu Hause fühlten; hartnäckiger Durchfall,
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