Doctor Boff - Weiberkranckheiten
dieselbe?«
»Euer Vorgänger war freundlicher.«
»Ihr irrt Euch, er war nur höflicher. Er hat Euch seine Verachtung Eurer schlechten Erziehung nicht so spüren lassen wie ich. Halle ist voll von Ärzten. Es steht Euch frei, sie aufzusuchen.«
Dann las er den Brief. Dass adlige Damen immer duftendes Papier in die Welt schicken mussten! Der Brief war kurz, er enthielt nichts weiter als die Bitte um ein Rezept. Das Mittel war so harmlos, dass Boff das Rezept ausstellte.
»Na bitte, warum nicht gleich so?«, sagte der Bote in einem Ton, als habe er einen Krieg gewonnen.
Boff öffnete den Brief noch einmal und griff zur Feder. »Eurem Boten täte eine Unterweisung in Höflichkeit und Demut so gut wie den Menschen, die das Pech haben, mit ihm Verkehr zu haben.«
9
Sie stand am Fußende des Bettes. Sie kannte die Gestalt nicht oder besser: den Rest der einstmals respektheischenden Gestalt. Die Gestalt wurde immer weniger. Erst hatte es so ausgesehen, als würde sie schlanker werden, was ihr nicht schlecht stand. Jetzt war die Grenze überschritten, bis zu der man sagte: Der Mann ist aber dünn. Jetzt wollte man sagen: Der Mann sieht aus wie der Tod. Von diesem Aussehen gab es keine Rückkehr.
Katarina Tänzer hoffte nichts mehr und fürchtete nichts. Sie ging von dem aus, was sie sah. Das war schrecklich genug, aber so wurde es ihr möglich zu leben. Hätte sie sich in Hoffnung geflüchtet, wäre es ihr übel bekommen, weil Hoffnung auf etwas, was nicht eintritt, den Menschen zermürbt. Und erst das Bangen! Die Angst, das Entsetzen vor dem, was ihr bevorstand. Im Grunde ging es ihr schlechter als der Gestalt im Bett. Sie litt, die Gestalt schlief. Vor einigen Tagen war sie kurz davor gewesen, schreiend aus der Wohnung zu laufen, die Fäuste gegen die Schläfen gepresst, sich Fragen nach dem Befinden zu verbitten und fromme Wünsche zurückzuweisen. Von Gott zu sprechen, wenn so eine Gestalt vor einem lag – wie blind musste man sein? Blind und dumm. Der unfassbaren Grausamkeit Gottes einen geheimen Sinn zu unterstellen, wie kindisch musste man sein? Kindisch und dumm.
Seitdem sie keine Angst mehr hatte, ging es ihr besser. Seitdem sie nichts mehr erwartete, ging es ihr noch besser. Hoffen und Bangen waren die Keulen, die den Menschen zu Boden schlugen. Der Tod ging herum und sammelte jeden ein. Wer seine Zeit erreicht hatte, würde sich nicht beklagen. Wer ein Unglück erlitt, wurde ein Opfer von Zufall und Schicksal. Aber dass der Tod so wahllos war! Dass er die Menschen nicht verschonte, die segensreich lebten. Wie vielen Seelen hatte die Gestalt im BettAngst und Schmerz genommen? Hunderten? Wahrscheinlich Tausenden. Gab es bessere Menschen als Ärzte? Wen rettete der Bischof? Wen retteten die Nonnen in den Klöstern? Sie waren Zwerge gegen diese Gestalt, an deren Seite Katarina hatte leben dürfen. Was tat ein Arzt anderes, als die Mängel der Schöpfung zu reparieren? Wenn dies aber gar keine Mängel waren, sondern Absicht, Sinn und Ziel; wenn der Mensch geboren wurde, um zu leiden, dann konnte ihr die Religion gestohlen bleiben.
Sie musste nur unbedingt aufhören zu bangen und zu hoffen. Die Gestalt hätte es so gewollt. »Sorge dich nicht. Das bisschen Sterben!« Ausgesprochen vor zwei Jahren, als er beim Schlittschuhlaufen im Teich eingebrochen war und die Erkältung auf die Lungen übergegangen war. Warum sollte, wer alles über den Körper wusste, Angst vor dem Ende des Lebens verspüren?
Sie war klein gewesen, als sie ihn kennen gelernt hatte, und ein Stückchen größer bei der Hochzeit. Sie war kontinuierlich gewachsen mit den Jahren und wusste immer, dass er alles war und sie so gut wie nichts. Er wusste so viel und machte so wenig darum her. Er wurde immer größer in der Stadt und ging am liebsten nirgendwo hin, wenn sie nicht an seiner Seite war. Wie oft hatte sie gesagt: »Geh und setze deine Pestordnung durch.« Und immer wieder: Geh und erkläre deine Hebammenordnung, deine Apothekenordnung, die Chirurgeninnung, den Bau des Waisenhauses. Hilf den Menschen, ich bleibe wach, bis du nach Hause kommst.
In über zwanzig Jahren war er zweimal nicht gekommen. Beim ersten Mal hatte am nächsten Tag der Bürgermeister vor der Tür gestanden und mit Pralinen um Entschuldigung gebeten, weil verheiratete Männer über die Stränge geschlagen hatten. Beim zweiten Mal hatte der Fürst Katarina in seiner Kutsche aufs Schloss gebracht, wo der Stadtphysicus seit sechsunddreißig Stunden um das Leben der
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