Doctor Sleep (German Edition)
und begann, über ihre Lippen zu wischen. Was sie da tat, war knif fl ig, aber vielleicht war es den Versuch wert.
Ein Alarm war gut und schön, aber wenn die Frau mit dem Hut nach ihr suchte, war eine Falle eventuell noch besser.
Nach etwa fünf Minuten glätteten sich die Falten auf ihrer Stirn, und ihre Hand sank vom Mund weg. Sie drehte sich auf die Seite und zog die Bettdecke bis zum Kinn. Während sie einschlief, stellte sie sich vor, dass sie in voller Kriegerrüstung auf einem weißen Hengst ritt. Winnie Puuh wachte auf seinem Platz auf der Kommode, wie er es seit ihrem fünften Lebensjahr tat, und warf einen schwachen Lichtschein auf ihre linke Wange. Das und ihre Haare waren das Einzige von ihr, was noch sichtbar war.
In ihren Träumen galoppierte sie über weite Felder unter vier Milliarden Sternen.
10
Rose setzte ihre Meditationen an diesem frühen Montagmorgen bis um halb zwei fort. Die übrigen Mitglieder des Wahren Knotens (mit Ausnahme von Apron Annie und Big Mo, die sich momentan um Grampa Flick kümmerten) schliefen tief und fest, als sie beschloss, dass sie bereit war. In einer Hand hielt sie ein Foto – mithilfe ihres Computers ausgedruckt – des nicht sehr eindrucksvollen Stadtzentrums von Anniston, New Hampshire. In der anderen hielt sie eine Flasche. Obwohl die nur noch einen minimalen Hauch Steam enthielt, zweifelte sie nicht daran, dass der ausreichen würde. Sie legte die Finger an das Ventil und bereitete sich darauf vor, es zu öffnen.
Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort: Sabbatha hanti.
Wir sind die Auserwählten: Lodsam hanti.
Wir sind die Glückseligen: Cahanna risone hanti.
»Nimm das, und nutze es gut, Rosie«, sagte sie zu sich selbst. Als sie am Ventil drehte, entwich ein kurzer Seufzer aus silbernem Dunst. Sie atmete ein, sank auf ihr Kissen zurück und ließ die Flasche auf den Boden fallen, wo sie mit einem leisen, dumpfen Geräusch aufkam. Sie hob das Bild der Hauptstraße von Anniston an ihre Augen. Ihr Arm und ihre Hand waren nicht mehr so richtig vorhanden, weshalb das Bild zu schweben schien. Nicht weit von dort wohnte ein Mädchen in einer Straße, die wahrscheinlich den Namen Richland Court trug. Die Kleine schlief vermutlich fest, aber irgendwo in ihrem Kopf war Rose the Hat. Die nahm an, dass das Mädchen nicht wusste, wie Rose the Hat aussah (genauso wenig wie Rose wusste, wie das Mädchen aussah … zumindest noch nicht), aber sie wusste, wie Rose the Hat sich anfühlte . Außerdem wusste sie, was Rose gestern im Supermarkt betrachtet hatte. Das war ihr Wegweiser, ihr Eingang.
Mit starrem, träumerischem Blick betrachtete Rose das Bild von Anniston, aber wonach sie wirklich suchte, war die Fleischtheke im Supermarkt, an der JEDES STEAK EIN COWBOY-STEAK VON EXZELLENTER QUALITÄT war. Sie suchte nach sich selbst. Und nach erfreulich kurzer Suche fand sie sich. Zuerst war es eine akustische Spur, der Klang von seichter Supermarkt-Muzak. Dann ein Einkaufswagen. Dahinter war noch alles dunkel. Das war in Ordnung, der Rest würde schon noch kommen. Rose folgte der Muzak, die nun in der Ferne hallte.
Es war dunkel, es war dunkel, es war dunkel, dann wurde es ein wenig heller und noch ein wenig heller. Da war der Gang zwischen den Regalen, der zu einem Korridor wurde, und da wusste sie, dass sie fast drin war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Auf ihrem Bett liegend, schloss sie die Augen, damit das Mädchen nichts sah, falls es merkte, was geschah. Das war unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich. Rose nahm sich einige Sekunden Zeit, ihre wichtigsten Ziele Revue passieren zu lassen: Name, genauer Aufenthaltsort, der Informationsstand der Kleinen und die Leute, denen sie sich offenbart hatte.
(dreh dich Welt)
Sie nahm alle Kraft zusammen und schob an. Diesmal war das Gefühl des Drehens keine Überraschung, sondern etwas, was sie geplant und vollständig unter Kontrolle hatte. Einen Moment lang war sie noch in jenem Korridor – der Verbindung zwischen ihren Gedanken und denen des Mädchens –, doch dann landete sie in einem großen Raum, in dem ein Mädchen mit Zöpfen Fahrrad fuhr und dabei ein albernes Liedchen trällerte. Das war der Traum des Mädchens, den Rose beobachtete. Aber sie hatte Besseres zu tun. Die Wände des Raums waren keine echten Wände, sondern sozusagen Aktenschränke mit Schubladen. Die konnte sie nun, da sie im Innern war, nach Belieben öffnen. Das Mädchen träumte ruhig in Rose’ Kopf, es träumte, dass es wieder
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