Doctor Sleep (German Edition)
verwirrt, von Schmerzen gepeinigt. Abra versuchte, ihrer Mutter tröstliche Gedanken zu senden: Lass doch, Mama und Wir haben dich lieb, Mama und Du hast getan, was du konntest, solange du dazu in der Lage warst. Sie hätte gern geglaubt, dass der eine oder andere Gedanke davon durchkam, aber so richtig glaubte sie nicht daran. Abra besaß zwar viele Gaben – solche, die gleichermaßen wunderbar wie unheimlich waren –, aber die Fähigkeit, den Gefühlszustand eines anderen Menschen zu verändern, hatte nie dazugehört.
Ob Dan das wohl tun konnte? Vielleicht konnte er es tatsächlich. Offenbar nutzte er diesen Teil seines Shinings, um den Leuten im Hotspitz zu helfen. Wenn er das wirklich konnte, dann half er vielleicht auch Momo, wenn sie dorthin kam. Das wäre gut.
In dem rosa Flanellpyjama, den Momo ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte, ging sie schließlich nach unten. Ihr Vater sah sich gerade ein Spiel der Red Sox an und trank dabei ein Glas Bier. Sie pflanzte ihm einen dicken Schmatz auf die Nase (er behauptete zwar immer, das wäre ihm zuwider, aber sie wusste, dass er es irgendwie mochte) und sagte, sie werde jetzt ins Bett gehen.
»Les Hausaufgaben sont complètes, Mademoiselle?«
»Ja, Daddy, aber das französische Wort für Hausaufgaben ist devoirs .«
»Gut zu wissen, gut zu wissen. Und wie geht es deiner Mutter? Ich frage nur, weil ich allerhöchstens neunzig Sekunden mit ihr gesprochen habe, bevor du mir das Telefon entrissen hast.«
»Es geht ihr ganz gut.« Abra wusste zwar, dass das stimmte, aber sie wusste auch um die Relativität dieser Formulierung. Sie ging auf den Flur zu, dann drehte sie sich noch einmal um. »Sie hat gesagt, Momo war wie ein Figürchen aus Glas.« Das hatte Lucy zwar nicht laut gesagt, aber doch gedacht. »Sie sagt, eigentlich sind wir das alle.«
Dave stellte den Ton des Fernsehers ab. »Tja, das ist wohl wirklich so, aber manche von uns sind aus erstaunlich hartem Glas gemacht. Denk dran, deine Momo hat viele, viele Jahre gesund und munter auf dem Regal gestanden. Und jetzt komm noch mal in meine Arme, Abba-Doo. Ich weiß nicht, ob du eine Umarmung brauchst, aber ich könnte eine gebrauchen.«
7
Zwanzig Minuten später lag sie im Bett neben dem Winnie-Puuh-Nachtlicht, einem Überbleibsel aus ihrer frühesten Kind heit. Sie suchte nach Dan und fand ihn in einem Gemeinschafts raum, in dem es Puzzles, Zeitschriften, eine Tischtennisplatte und einen großen Fernseher an der Wand gab. Dan spielte mit einigen Hotspitz-Bewohnern Karten.
(hast du mit Doctor John gesprochen?)
(ja übermorgen fliegen wir zusammen nach Iowa)
Dieser Gedanke wurde von dem Bild eines alten Doppeldeckers begleitet. Darin saßen zwei Männer mit altmodischen Fliegerhelmen, Handschuhen und Schutzbrillen. Abra musste lächeln.
(wenn wir dir was mitbringen)
Sie sah das Bild eines Fängerhandschuhs. So hatte der Handschuh des Baseballjungen zwar nicht genau ausgesehen, aber Abra wusste, was Dan damit sagen wollte.
(wirst du dann ausrasten)
(nein)
Lieber nicht. Den Handschuh des toten Jungen in der Hand zu halten würde zwar schrecklich sein, aber sie musste es trotzdem tun.
8
Im Gemeinschaftsraum von Gebäude eins starrte Mr. Braddock Dan an. Auf seinem Gesicht lag jener Ausdruck eines gewaltigen, aber leicht verwirrten Zorns, den nur sehr alte, am Rande der Senilität stehende Leute erfolgreich zustande brachten. » Werfen Sie jetzt endlich ab, Danny, oder sitzen Sie weiter bloß da und stieren in die Ecke, bis die Polkappen schmelzen?«
(gute Nacht Abra)
(gute Nacht Dan grüß Tony von mir)
»Danny?« Mr. Braddock klopfte mit seinen geschwollenen Knöcheln auf den Tisch. »Danny Torrance, bitte kommen, Danny Torrance, over!«
(vergiss nicht den Alarm einzustellen)
»Huhu, Danny«, sagte Cora Willingham.
Dan sah die beiden an. »Hab ich abgeworfen, oder bin ich noch dran?«
Mr. Braddock warf Cora augenrollend einen Blick zu, den sie ebenfalls augenrollend erwiderte.
»Und meine Töchter denken, ich hätte allmählich nicht mehr alle Tassen im Schrank!«, sagte sie.
9
Abra hatte die Weckfunktion ihres iPads aktiviert, weil morgen nicht nur ein Schultag war, sondern auch einer der Tage, an denen sie mit dem Frühstückmachen dran war – geplant war Rührei mit Champignons, Paprikaschoten und Monterey Jack. Aber das war nicht der Alarm, von dem Dan gesprochen hatte. Sie schloss die Augen, runzelte die Stirn und konzentrierte sich. Eine ihrer Hände kroch unter der Decke hervor
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