Doctor Sleep (German Edition)
vor sich hin. Das hatte Dan vorausgesehen und ihr gesagt, sie solle einfach warten. Schließlich sei es dort zwei Stunden früher als an der Ostküste.
Endlich sagte jemand mit brummiger Stimme: »Hallo? Wenn Sie das Büro sprechen wollen, haben Sie die falsche Num…«
»Das Büro interessiert mich nicht«, sagte Abra und hoffte, dass man ihr nicht anhörte, wie schnell und heftig ihr Herz schlug. »Ich will Rose sprechen. Rose the Hat.«
Eine Pause. Dann: » Wer spricht da?«
»Abra Stone. Sie kennen meinen Namen, stimmt’s? Ich bin das Mädchen, nach dem Rose sucht. Sagen Sie ihr, in fünf Minuten rufe ich noch mal an. Wenn sie dann da ist, sprechen wir miteinander. Wenn nicht, kann sie mich am Arsch lecken. Noch mal rufe ich nämlich nicht an.«
Abra legte auf, dann ließ sie den Kopf sinken, verbarg ihr glühendes Gesicht in den Händen und atmete tief und langsam durch.
2
Rose saß am Lenkrad ihres EarthCruiser, die Füße auf dem Geheimfach mit den Flaschen voll Steam, und trank Kaffee, als es an die Tür klopfte. Ein so frühes Klopfen konnte nur weitere Probleme bedeuten.
»Ja«, sagte sie. »Mach einfach die Tür auf.«
Es war Long Paul, der einen kindischen, mit Rennautos bedruckten Pyjama und darüber seinen Bademantel trug. »Das Münztelefon in der Lodge hat geläutet. Zuerst hab ich nicht reagiert, weil ich dachte, da hat sich jemand verwählt, außerdem war ich gerade in der Küche und hab Kaffee gekocht. Aber es hat nicht aufgehört, also hab ich abgehoben. Es war dieses Mädchen. Sie will mit dir sprechen. In fünf Minuten ruft sie noch mal an, hat sie gesagt.«
Hinten setzte Silent Sarey sich im Bett auf und blinzelte durch ihren Pony. Die Bettdecke hatte sie wie einen Schal um die Schultern gezogen.
»Raus«, sagte Rose zu ihr.
Sarey gehorchte stumm. Durch die breite Windschutzscheibe des EarthCruisers hindurch sah Rose, wie Sarey barfuß zu dem Bounder zurücktrottete, den sie sich mit Snakebite Andi geteilt hatte.
Das Mädchen.
Statt davonzulaufen und sich zu verstecken, machte dieses kleine Aas doch tatsächlich Telefonanrufe. Eiserne Nerven hatte die Kleine, das musste man zugeben. Aber war es ihre eigene Idee gewesen? Das war schwer zu glauben, oder nicht?
»Sag mal, wieso hast du dich eigentlich schon so früh in der Küche herumgetrieben?«
»Ich konnte nicht einschlafen.«
Sie wandte sich ihm zu. Er war ein groß gewachsener, älterer Kerl mit schütterem Haar und einer Bifokalbrille auf der Nase. Ein Tölpel hätte ihm monatelang täglich auf der Straße begegnen können, ohne ihn wahrzunehmen, aber er hatte durchaus gewisse Fähigkeiten. Paul besaß zwar kein Schläfertalent wie Snakebite es hatte, und er war auch kein Finder wie der verstorbene Grampa Flick, aber er war ein anständiger Überreder. Wenn er einem Tölpel suggerierte, dieser solle seiner Frau – oder einem Fremden – eine Ohrfeige verpassen, dann geschah genau das, und zwar flott. Jedes Mitglied des Wahren Knotens verfügte über sein eigenes kleines Talent; das war der Grund, weshalb sie überall durchkamen.
»Zeig mir mal deine Arme, Paulie.«
Er seufzte und schob die Ärmel seines Bademantels und seines Pyjamas bis zu den runzligen Ellbogen hoch. Da waren sie, die roten Flecke.
»Seit wann hast du die?«
»Die ersten paar hab ich gestern Nachmittag bemerkt.«
»Fieber?«
»Ja. Ein bisschen.«
Sie blickte in seine ehrlichen, vertrauensvollen Augen und hätte ihn am liebsten umarmt. Einige waren davongelaufen, aber Long Paul war noch da. Die meisten anderen ebenfalls. Auf jeden Fall waren es genug, dass man mit diesem kleinen Aas fertigwerden konnte, wenn es wirklich so leichtsinnig war, hier aufzutauchen. Was durchaus möglich war. Welches zwölfjährige Mädchen war nicht leichtsinnig?
»Du wirst wieder gesund«, sagte sie.
Er seufzte noch einmal. »Hoffentlich. Falls nicht, hatten wir eine verdammt gute Zeit.«
»So was will ich gar nicht erst hören. Jeder, der hier bei uns bleibt, wird gesund. Das verspreche ich, und ich halte meine Versprechen. Aber hören wir jetzt erst mal, was unsere kleine Freundin aus New Hampshire zu sagen hat.«
3
Kaum eine Minute nachdem Rose es sich auf dem Sessel neben der großen Bingo-Trommel gemütlich gemacht hatte (den langsam abkühlenden Becher Kaffee neben sich), gab das Münztelefon der Lodge ein noch aus dem 20. Jahrhundert stammendes Scheppern von sich, das sie zusammenfahren ließ. Sie ließ es zweimal läuten, bevor sie den Hörer schließlich
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