Doctor Sleep (German Edition)
dann nickte er und trat zum Fenster. Es war ein wunderschöner Spätsommertag, und er hatte heute frei. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen, um das beunruhigende Gespräch mit Casey aus dem Kopf zu bekommen. Ja, der Morgen in Deenies Wohnung in Wilmington war wohl tatsächlich sein Tiefpunkt gewesen, aber dass er das für sich behalten hatte, hatte ihn nicht daran gehindert, zehn trockene Jahre hinter sich zu bringen. Wieso sollte es ihn dann daran hindern, weitere zehn Jahre zu schaffen? Oder zwanzig? Und wieso sollte er überhaupt in solchen Zeiträumen denken, wenn das AA -Motto doch Tag für Tag lautete?
Wilmington war lange her. Jener Teil seines Lebens war beendet.
Als er sein Zimmer verließ, schloss er wie immer ab, aber das würde die mysteriöse Abra nicht davon abhalten, zu Besuch zu kommen. Wenn er wiederkam, stand womöglich eine weitere Botschaft von ihr auf der Tafel.
Vielleicht können wir Brieffreunde werden.
Klar, und vielleicht gelang es einem Trupp Unterwäschemodels von Victoria’s Secret, das Geheimnis der Wasserstofffusion zu knacken.
Grinsend trat Dan auf die Straße.
5
In der Stadtbücherei von Anniston fand wie jeden Sommer ein Bücherflohmarkt statt, und als Abra am Nachmittag hingehen wollte, war Lucy gern bereit, den Haushalt ruhen zu lassen und mit ihrer Tochter zur Main Street zu spazieren. Auf dem Rasen hatte man Klapptische aufgebaut, auf denen stapelweise gespendete Bücher lagen, und während Lucy das Taschenbuchangebot ( 1 BUCH 1 $, 6 FÜR 5 $, FREIE WAHL ) nach Titeln von Jodi Picoult durchstöberte, die sie noch nicht gelesen hatte, widmete Abra sich der Auswahl auf den Tischen mit dem Schild JUGENDBÜCHER . Sie war zwar vom Alter her noch eher dem Kinderbuch zuzurechnen, aber sie war eine begeisterte (und sehr frühreife) Leserin mit einer besonderen Vorliebe für Fantasy und Science-Fiction. Die Vorderseite ihres Lieblings-T-Shirts war mit einer riesigen, komplexen Maschine bedruckt, unter der sich der Schriftzug STEAM PUNK RULES befand.
Als Lucy gerade feststellte, dass sie sich wohl mit einem alten Dean Koontz und einem etwas neueren Werk von Lisa Gardner zufriedengeben musste, kam Abra angerannt. Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Mama! Mami! Er heißt Dan!«
» Wer heißt Dan, Liebes?«
»Der Vater von Tony! Er hat mir einen schönen Sommertag gewünscht!«
Lucy sah sich um. Sie hätte sich nicht gewundert, einen unbekannten Mann in Begleitung eines Jungen in Abras Alter zu sehen. Es waren zwar viele unbekannte Leute da – schließlich war es Sommer –, aber ein solches Paar war nicht vorhanden.
Abra sah, was ihre Mutter tat, und kicherte. »Ach, der ist doch nicht hier! «
» Wo ist er dann?«
»Das weiß ich nicht genau. In der Nähe jedenfalls.«
»Tja … das ist wohl gut so, Schatz.«
Lucy hatte gerade genug Zeit, ihrer Tochter die Haare zu zausen, bevor sie wieder wegrannte, um nach Raumfahrern, Zeitreisenden und Zauberern zu suchen. Lucy stand da und blickte ihr hinterher, die ausgewählten Bücher achtlos in der Hand. Sollte sie David erzählen, was gerade passiert war, wenn er aus Boston anrief, oder nicht? Eher nicht.
Das übliche schräge Radio, mehr nicht.
So was vergaß man lieber.
6
Dan beschloss, bei Java Express vorbeizuschauen, um zwei Becher Kaffee zu kaufen, einen für sich und einen für Billy Freeman in Teenytown. Obwohl Dan nur ganz kurz bei den städtischen Diensten von Frazier beschäftigt gewesen war, hatte die Freundschaft zwischen den zweien zehn Jahre lang gehalten. Teilweise lag das daran, dass sie beide mit Casey zu tun hatten – der Billys Chef und Dans Sponsor war –, aber vor allem mochten sie sich einfach. Dan gefiel Billys nüchterne, direkte Art.
Außerdem steuerte er gern die Helen Rivington . Daran war wahrscheinlich wieder sein inneres Kind schuld, jedenfalls hätte das sicher jeder Psychiater behauptet. Normalerweise war Billy bereit, ihn ans Steuer zu lassen, und während der Sommersaison tat er das sogar ausgesprochen gern. Zwischen Anfang Juli und Anfang September fuhr die Riv zehnmal täglich zum Wolkentor und zurück, und Billy wurde auch nicht jünger.
Während Dan über den Rasen zur Cranmore Avenue ging, sah er Fred Carling auf einer schattigen Bank am Weg zwischen dem Haupthaus und dem rechten Nebengebäude des Hospizes sitzen. Der Pfleger, der vor Jahren seine Fingerabdrücke auf dem armen, alten Charlie Hayes hinterlassen hatte, war immer noch für die Nachtschicht eingeteilt, und er war
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