Doctor Sleep (German Edition)
sich gezogen hatte. Dann hatten die beiden Gesicht an Gesicht in der Morgensonne gelegen, die durch das verdreckte Fenster des Schlafzimmers drang.
»Da gibt’s nichts«, sagte er.
»Lass es los, Dan. Das sage ich dir als Freund ebenso wie als dein Sponsor.«
Dan blickte seinem Gegenüber unverwandt in die Augen und sagte nichts.
Casey seufzte. »Bei wie vielen Treffen hast du gehört, wie jemand gesagt hat, das man nur so krank wie die Geheimnisse ist, die man hat? Bei hundert? Wahrscheinlich eher bei tausend. Von den alten Sprüchen, die wir haben, ist das wohl der älteste.«
Dan schwieg weiter.
» Wir haben alle einen absoluten Tiefpunkt«, sagte Casey. »Eines Tages wirst du irgendjemand von deinem Tiefpunkt erzählen müssen. Wenn du das nicht tust, wirst du dich irgendwann mit einem Glas Schnaps in der Hand in einer Kneipe wiederfinden.«
»Botschaft empfangen«, sagte Dan. »Können wir uns jetzt endlich über die Red Sox unterhalten?«
Casey warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ein andermal. Ich muss nach Hause.«
Genau, dachte Dan. Zu deinem Hund und deinen Goldfischen.
»Okay.« Er schnappte sich die Rechnung, bevor Casey dazu kam. »Ein andermal.«
4
In sein Turmzimmer zurückgekehrt, starrte Dan lange auf seine Tafel, bevor er langsam wegwischte, was dort stand:
Die bringen den Baseballjungen um!
Als die Tafel wieder leer war, fragte er: » Was für ein Baseballjunge ist das?«
Keine Antwort.
»Abra? Bist du noch da?«
Nein. Aber sie war da gewesen; wäre er zehn Minuten früher von seinem unangenehmen Kaffeeklatsch mit Casey wiedergekommen, hätte er womöglich ihre phantomhafte Gestalt gesehen. Aber war sie wirklich zu ihm gekommen? Wohl nicht. Es war zweifellos völlig verrückt, aber er hatte den Eindruck, dass sie zu Tony gekommen war. Der früher sein unsichtbarer Freund gewesen war, vor langer Zeit. Der manchmal Visionen mitgebracht hatte. Der ihn manchmal gewarnt hatte. Der sich als eine tiefere und weisere Version seiner selbst entpuppt hatte.
Für den verängstigten kleinen Jungen, der versucht hatte, im Hotel Overlook zu überleben, war Tony wie ein beschützender älterer Bruder gewesen. Die Ironie lag darin, dass Daniel Anthony Torrance sich mit seinem Sieg über den Alkohol zu einem echten Erwachsenen entwickelt hatte und Tony immer noch ein Kind war. Vielleicht sogar das berühmte innere Kind, von dem die New-Age-Gurus immer schwafelten. Dan hatte zwar den Eindruck, dass das Konzept des inneren Kindes oft missbraucht wurde, um selbstsüchtiges und zerstörerisches Verhalten zu rechtfertigen (Casey nannte das gern das Ich-muss-das-jetzt-sofort-haben-Syndrom), aber er zweifelte trotzdem nicht daran, dass erwachsene Männer und Frauen jedes Stadium ihrer Entwicklung irgendwo im Gehirn gespeichert hatten – nicht nur das innere Kind, sondern auch den inneren Säugling, den inneren Teenager und den inneren jungen Erwachsenen. Und wenn diese mysteriöse Abra ihn besuchte, lag es da nicht nahe, dass sie hinter seinem erwachsenen Denken nach jemand suchte, der ihr eigenes Alter hatte?
Nach einem Spielgefährten?
Vielleicht sogar nach einem Beschützer?
Wenn das der Fall war, so handelte es sich um eine Aufgabe, die Tony früher erfüllt hatte. Aber brauchte sie wirklich Schutz? Ihre Botschaft war zwar von Qual erfüllt gewesen
(die bringen den Baseballjungen um)
aber Shining war von Natur aus mit Qualen verbunden, wie Dan schon vor langer Zeit festgestellt hatte. Ein Kind hätte eigentlich nicht so viel wissen und sehen sollen. Klar, er konnte sie aufspüren und versuchen, mehr zu entdecken, aber was hätte er zu ihren Eltern gesagt? Guten Tag, Sie kennen mich zwar nicht, aber ich kenne Ihre Tochter, die besucht mich gelegentlich in meinem Zimmer, und wir haben uns schon ganz gut angefreundet?
Dan wusste zwar nicht, ob sie ihm den Sheriff auf den Hals geschickt hätten, aber falls ja, hätte er ihnen keinen Vorwurf gemacht, und angesichts seiner bewegten Vergangenheit hatte er kein Bedürfnis, das zu riskieren. Es war besser, wenn Tony ein Freund in der Ferne blieb, falls er das für Abra tatsächlich war. Auch wenn er unsichtbar war, passte er wenigstens mehr oder weniger zu ihrem Alter.
Die Namen und Zimmernummern, die auf seine Tafel gehörten, konnte er später wieder notieren. Jetzt nahm er den Kreidestummel von der Ablage und schrieb: Tony und ich wünschen dir einen schönen Sommertag, Abra! Dein ANDERER Freund – Dan.
Er studierte das Geschriebene kurz,
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