Doener, Machos und Migranten
Plastikschiebetür abgetrennt. Die Küche war so klein, dass man leicht sämtliche hauswirtschaftliche Handgriffe erledigen konnte, ohne sich von der Stelle bewegen zu müssen. Kochen mit der einen Hand, Geschirr spülen und wegräumen mit der anderen. Keine langen Wege. Sitzmöglichkeiten – nicht vorhanden.
Ein Badezimmer gab es nicht, das WC befand sich eine halbe Etage tiefer im Hausflur. Geheizt wurde auch hier mit einem Kohleofen. Die Wohnqualität hatte sich im Vergleich zu Felixdorf nicht verbessert. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich die Wohnung in einem Mietshaus befand. Erstmalig hatte meine Mutter ausländische, sprich deutsche, Nachbarn. Das Wohnen war nun nicht mehr umsonst wie in Felixdorf. Vielmehr erhielt meine Mutter einen Untermietvertrag und musste anteilig Miete, Strom und Wasser bezahlen.
Wieder einmal hieß es für meine Eltern, Abschied voneinander zu nehmen. Aufgrund der minimalistischen Wohnsituation konnte mein Vater die erste gemeinsame Nacht in Deutschland nicht bei meiner Mutter verbringen. Er musste mit dem Zug nach Nürnberg fahren, wo er in den nächsten Tagen eine Stelle als Arbeiter bei einer Baufirma antrat. Er arbeitete auf Montage in unterschiedlichen Städten. Sein Arbeitgeber besorgte ihm jeweils eine Unterkunft in einem nahe gelegenen Wohnheim.
Die Mitbewohnerin meiner Mutter hieß Ayse, lebte schon etwas länger in Deutschland und kannte sich mit den hiesigen Verhältnissen aus. Sie war 24 Jahre alt und stammte aus Erzurum. Erzurum ist mit etwas über 360 000 Einwohnern die größte Stadt Ostanatoliens. Die Menschen aus Erzurum sprechen einen eigentümlichen Dialekt und nennen sich alle «Dagdas», was so viel wie Freund bedeutet. Angeblich ist in Erzurum jeder mit jedem befreundet, was ich mir allerdings nicht wirklich vorstellen kann. Mein Vater erzählte mir einmal, in Erzurum hätten sämtliche Männer Gewehre und Pistolen neben und im Bett bereit liegen. Sobald jemand ein falsches Wort sage, würde ein heftiger Streit ausbrechen, der des Öfteren nicht ohne feurige Folgen bliebe. Wenn man bedenkt, dass in Erzurum alle untereinander Dagdas sind, sollteein Fremder seine Wortwahl sehr genau abwägen. Damit kein falscher Eindruck entsteht, sollte ich noch die besondere Gastfreundschaft der dortigen Einwohner erwähnen, die in allen Teilen der Türkei bekannt ist. Die Erzurumer lassen sich u.a. an ihren dicken geschwungenen Schnurrbärten und an ihrer speziellen Art des Tanzes erkennen. Bei dieser Art Folkloretanz tragen die Männer kniehohe schwarze Stiefel, Reiterhosen und weite helle Hemden. Die Beine werden in einem bestimmten Rhythmus rechts und links in die Höhe geworfen, während die Arme schulterhoch gestreckt gehalten und ebenfalls rhythmisch bewegt werden.
Ayse arbeitete seit einem Jahr in der Strumpf- und Hemdenfabrik Orivia, in der meine Mutter nun als Arbeiterin anfangen sollte. Es handelte sich um eine mittelgroße Fabrik mit rund 150 Arbeitern. Hauptsächlich waren es Gastarbeiter aus dem damaligen Jugoslawien und Griechenland, die in zwei Schichten Strümpfe und Hemden herstellten. Türkische Gastarbeiter waren in der Minderheit. Die Fabrik befand sich im Norden der Stadt.
Am Montagmorgen stieg meine Mutter gemeinsam mit Ayse in die Straßenbahn 302 in Richtung Gelsenkirchen-Buer. Die Fahrt zu ihrem neuen Arbeitsplatz dauerte 30 Minuten. Nach dem üblichen Rundgang und der Unterschrift im Lohnbüro ging es gleich an die Arbeit. Meine Mutter musste zusammengelegte Strümpfe aus großen Kartons packen und in eine spezielle Maschine legen. Die Maschine faltete die Strümpfe und legte ein dünnes Blatt Papier zwischen die einzelnen Socken. Zusätzlich wurden die Strümpfe mit einer Papierrolle versehen, auf der die Strumpfgröße, die Garnzusammensetzung und die Waschinstruktionen aufgedruckt waren. Im letzten Arbeitsgang mussten die zusammengefalteten Strümpfe in neuen Kartons verstaut werden.Auch in dieser Fabrik arbeiteten die Menschen in zwei Schichten. Es gab eine Früh- und eine Mittagsschicht. Der Verdienst hatte sich im Vergleich zu Österreich verbessert. Für einen Monat erhielt meine Mutter 900 DM Lohn, also knapp 450 Euro. Nach Abzug der Mietkosten und der Kosten für eine Monatsfahrkarte der Straßenbahn blieben ihr noch 750 DM (370 Euro) zum Leben und Sparen. Die niedrigen Lebenshaltungskosten erlaubten es ihr, eine größere Summe zurückzulegen. Sowohl die Arbeit als auch das Arbeitsklima in Gelsenkirchen waren sehr angenehm.
Weitere Kostenlose Bücher