Doener, Machos und Migranten
zweite Generation der Gastarbeiter so unterschiedlich? Vielleicht liegt es an dem Selbstbewusstsein, über das die zweite Generation verfügt, denn sie fühlt sich in Deutschland viel heimischer als die erste. Sie lässt sich nichts gefallen, kennt ihre Rechte sehr viel besser und versteht es, diese zu verteidigen. Die ersten Gastarbeiter kamen mit dem Ziel nach Deutschland, dort möglichst viel Geld anzusparen, um einige Jahre später wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Doch aus diesen Plänen wurde in den meisten Fällen nichts. Nun lebte man in einem Land, in dem man ursprünglich nicht hatte leben wollen. In derFolge entstanden eine große Unsicherheit und ein mangelndes Selbstbewusstsein, die klassischen Markenzeichen der ersten Generation, die zum Glück nicht an die zweite Generation weitervererbt wurden.
Nach etwa drei Monaten endete die Wohngemeinschaft meiner Mutter mit Ayse. Sie bezog eine neue Wohnung mit ihrem Mann, der aus der Türkei nachgekommen war. Fortan war meine Mutter Hauptmieterin. Mein Vater kündigte seine Arbeitsstelle in Nürnberg und zog nach Wattenscheid zu meiner Mutter in ihre Miniwohnung.
Die damalige Situation auf dem Arbeitsmarkt ließ meinen Vater nicht arbeitslos werden. Er fand sofort eine neue Arbeitsstelle bei der Firma Happel, einer Metallfabrik mit Sitz in Bochum. Dort wurde er als Schweißer eingesetzt. Für meine Eltern ging ihr lang gehegter Traum in Erfüllung: uns Kinder nachzuholen. Unverzüglich gingen sie zum Einwohnermeldeamt in Wattenscheid und füllten dort die notwendigen Formulare für die Familienzusammenführung aus. Kurze Zeit später saß mein Vater im Flugzeug nach Istanbul. Die beschwerliche Reise mit dem Zug hatte er bestens in Erinnerung und wollte seinen Kindern (und wohl auch sich) diese Strapaze nicht noch einmal zumuten.
Mein Vater hatte meine Tante gebeten, uns Kinder nicht über seine bevorstehende Ankunft zu informieren. Er wollte uns überraschen. Mein Bruder besuchte inzwischen seit einigen Wochen die erste Klasse einer Schule im Istanbuler Stadtteil Koca Mustafa Pasa. Er saß im Unterricht, als mitten in der Stunde die Klassentür aufging und sein Vater im Türrahmen stand. Ercan schrie nur «Baba», sprang auf und stürmte auf ihn los. Damit endete sein letzter Schultag in der Türkei. Er verließ mit meinem Vater das Gebäude und wollte sich noch nicht einmal verabschieden.
Die wenigen Schulwochen müssen traumatisch für ihn gewesen sein. Wenn seine Lehrerin die Hausaufgaben als nicht ordentlich genug empfand, setzte es mit dem Holzlineal Schläge auf die Hände. Da die Feinmotorik bei allen Erstklässlern noch geschult werden muss, kann man sich leicht ausmalen, wie viele Schläge es zu jener Zeit gesetzt haben muss. Mein Bruder war über diese Bestrafung weniger wegen der damit verbundenen Schmerzen empört als vielmehr über die Ungerechtigkeit, denn er meinte, seine Hausaufgaben ordentlich gemacht zu haben. Kinder ohne Hausaufgaben bekamen ebenfalls Schläge. Mit erhobenem Haupt verließ Ercan die Schule, in der festen Überzeugung, in deutschen Schulen würden Kinder von ihren Lehrern nicht geschlagen werden. Doch er sollte sich irren, was er damals noch nicht ahnen konnte. Er war erst einmal glücklich und wurde auf den starken Schultern seines Vaters nach Hause getragen.
Erneut hieß es, Abschied zu nehmen – diesmal von meiner Tante. Sie war mit Sicherheit alles andere als begeistert. Das galt auch für mich, denn in den vergangen Monaten hatte sich bei mir das Bewusstsein eingestellt, dass meine Tante meine Mutter sei. Ich nannte sie «Anne», sprich Mutter, was meiner Tante natürlich ungemein schmeichelte. Meinen Vater erkannte ich sofort als meinen Vater wieder. Meine Mutter jedoch nannte ich nur «die Frau ohne Hände». Auf den Hochzeitsfotos, die an vielen Stellen in unserer Wohnung in Istanbul standen, war sie häufig zu sehen. Zu ihrem Brautkleid trug sie weiße Handschuhe, die hinter dem Brautstrauß nicht zu sehen waren. So kam ich auf den Namen «Frau ohne Hände».
Mein Bruder versuchte, mir mit seiner kindlichen Art die familiären Umstände zu erklären. «Hör mal zu», pflegte er stets zu beginnen. «Ich bin dein Bruder. Und auf dem Foto da sind mein Vater und meine Mutter. Meine Tante Hayriye kanndann doch auch nur deine …?» Er wollte natürlich die richtige Antwort hören, die ich ihm nur dann gab, wenn er mich vorher mit Süßigkeiten bestach. Ansonsten blieb ich bei meiner ganz persönlichen
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