Doener, Machos und Migranten
Wahrnehmung der Familienzusammensetzung. Nach unserem Umzug nach Wattenscheid begriff ich dann im Laufe der Zeit, dass die «Frau ohne Hände» meine Mutter war.
Nun lebten wir zu viert in der Wattenscheider Miniwohnung. Um uns Kinder betreuen zu können, arbeiteten meine Eltern wieder in unterschiedlichen Schichten. Mein Bruder kam in die Grundschule in Wattenscheid-Mitte. Zu diesem Zeitpunkt sprach er kein Wort Deutsch. Ich bekam nach kurzer Zeit in unmittelbarer Nähe einen Kindergartenplatz, in einem städtischen Kindergarten. Er hatte zwei Gruppen, in denen je 25 Kinder von zwei Erzieherinnen betreut wurden. In der Regel war ich das erste Kind, das morgens gebracht wurde. Zu diesem Zeitpunkt war ich eines der wenigen Migrantenkinder in diesem Kindergarten.
Wenn ich an meine Kindergartenzeit zurückdenke, fällt mir als Erstes der strenge und wenig herzliche Umgang der Erzieherinnen mit den Kindern ein. Es gab klare Regeln. Wer beispielsweise in der Bauecke spielen wollte, musste um Erlaubnis fragen. Gleiches galt für das Spielen in der Puppenecke. Die Erzieherinnen gaben vor, was gemacht wurde, und boten nie eine Alternative an. So mussten z.B. alle Kinder sticken, ganz gleich, ob sie wollten oder nicht. Während dieser ziemlich langweiligen Stickphase war es verboten, sich zu unterhalten.
Die Erzieherinnen saßen in der Regel an einem ausschließlich für sie reservierten Tisch, während wir Kinder spielten. Wer Durst hatte, konnte zwischen Kamillentee und Milch wählen. Leider mag ich diese beiden Getränkesorten bis heutenicht. In einer Ecke des angrenzenden WCs hatten die Erzieherinnen eine Kiste mit Cola und Mineralwasser für sich stehen. Als ich eines Tages großen Durst hatte, tat ich so, als müsste ich auf die Toilette. Heimlich öffnete ich eine Flasche Cola, nahm einen großen Schluck – und wurde prompt erwischt. Es gab eine riesengroße Szene und meine Eltern wurden offiziell zu einem Gespräch in den Kindergarten zitiert.
Unsere gesamte Familie erlebte einen Kulturschock. Ich wurde des Diebstahls bezichtigt, und meine Eltern konnten nicht verstehen, warum ein solcher «Aufstand» um eine in ihren Augen harmlose Sache veranstaltet wurde. Noch am selben Tag besorgte mein Vater als Wiedergutmachung eine Kiste Coca und stellte die Erzieherinnen damit zufrieden. Zu diesem Zeitpunkt hätten es meine Eltern nicht gewagt zu widersprechen. In ihrer Erziehung waren Erzieherinnen und Lehrer Respektspersonen, denen man nicht ohne weiteres widerspricht.
Eine ständige und vor allem unbegründete Angst begleitete uns während meiner gesamten Kindheit. Meine Eltern betonten immer wieder, dass wir Migranten wären und uns stets peinlich genau an alle Vorschriften zu halten hätten. Vielleicht lag diese ständige Sorge auch an der damaligen Gesetzeslage für ausländische Arbeitnehmer. Jedes Vierteljahr wurde die Aufenthaltsgenehmigung für die nächsten drei Monate verlängert. Dies setzte voraus, dass man eine Arbeitsstelle besaß und nicht polizeilich aufgefallen war. Nach zwei Jahren wurde diese so wichtige Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr verlängert. Nach fünf Jahren war es möglich, einen Antrag zur Aufenthaltsberechtigung zu stellen. Mit dieser Aufenthaltsberechtigung erwarb der Migrant mehr Rechte. Bei Verlust der Arbeitsstelle drohte nun nicht mehr die Ausweisung. Nur ein Gericht konnte einen des Landes verweisen.
Meine Familie befand sich zu der Zeit noch in der Phase, in der alle Vierteljahre eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung beantragt werden musste. Immer wieder führten uns meine Eltern vor Augen, dass wir hier zu Gast seien und uns vorbildlich zu benehmen hätten. Sie wollten auf gar keinen Fall negativ auffallen. Zudem entsprach es eher ihrem Naturell und ihrer Erziehung, sich in vielen Dingen anzupassen. Diese Lebenseinstellung verursachte bei meinen Eltern oftmals eine Unsicherheit, die sich zum Teil noch heute bemerkbar macht. Sobald ein Brief von einer Behörde kam, waren meine Eltern auch aufgrund ihrer sprachlichen Defizite verunsichert. Wenn sie zu einem Gespräch in die Schule gebeten wurden, weil mein Bruder einem Mitschüler geholfen hatte, der gerade verprügelt wurde, «handfest» geholfen hatte, reagierten sie nicht nur verunsichert, sondern sogar verängstigt. Ihre Unsicherheit übertrug sich auch auf uns Kinder. Eine selbstverständliche und selbstbewusste Herangehensweise an neue Situationen mussten wir uns selbst aneignen.
Viele Jahre nachdem er die
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