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Doener, Machos und Migranten

Titel: Doener, Machos und Migranten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betuel Durmaz
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ein neues Zimmer zugewiesen, ein so genanntes Familienzimmer. Es hatte den gleichen Komfort wie das Zimmer, das meine Mutter zuvor mit ihrer Freundin Kalbiye bewohnt hatte. Lediglich die Anzahl der Betten warentsprechend den Bedürfnissen einer vierköpfigen Familie aufgestockt worden.
    Nach wenigen Tagen fing auch mein Vater in der Textilfabrik an. Er war für das Wechseln der Spulen zuständig. Sobald eine Spule voll mit Fäden war, wurde er gerufen. Er löste die vollen Spulen zunächst aus der Halterung der Maschine und hievte sie dann auf einen Handwagen. Anschließend setzte er eine leere Spule in die Maschine ein. Die vollen Spulen brachte er in einen Lagerraum. Sobald eine vorgegebene Anzahl von Spulen gefüllt war, wurden sie in einen Lkw geladen und zur Tochterfiliale in die Wiener Neustadt gefahren. Dort wurden aus dem Garn Stoffe, Gardinen, Tischtücher, Bettlaken usw. gewebt.
    Um ihren Arbeitsalltag meistern zu können, arbeiteten meine Eltern stets in entgegengesetzter Wechselschicht. Wenn meine Mutter also Frühschicht hatte, war mein Vater mit uns in der Ein-Zimmer-Wohnung und versorgte uns. Sobald meine Mutter nach Hause kam, ging mein Vater für acht Stunden arbeiten. Musste mein Vater früh arbeiten, war meine Mutter bei uns. Für das Familienleben blieb nicht viel Zeit.
    Die freien Wochenenden verbrachten wir in der Natur. Je nach Jahreszeit gab es ein Picknick auf der Wiese oder im Wald oder aber wir gingen zum Rodeln. Allzu viele Möglichkeiten gab es in Felixdorf nicht. Manchmal fuhren wir auch mit dem Zug in die Wiener Innenstadt. Dort herrschte ein buntes Treiben, wie es meine Eltern nur zu gut aus Istanbul kannten. Die vielen Menschen, Restaurants, Kinos, Straßen und Geschäfte sahen zwar anders aus, dennoch war Wien eine Großstadt. Die Menschen hatten viel hellere Haut und nicht so schwarzes Haar wie die meisten unserer Landsleute. Die Speisekarten verstanden meine Eltern nicht, denn darauf standen fast ausschließlich Wiener Spezialitäten. Türkische Restaurants gab es damals noch nicht. Auch die Kinos warenanders, denn sie befanden sich in geschlossenen Räumen. In Istanbul hingegen gab es zu jener Zeit nur Open-Air-Kinos, die im Winter geschlossen waren. Die Straßen in Wien wirkten viel ordentlicher und bei weitem nicht so chaotisch wie in Istanbul. Die Autos fuhren auf den markierten Straßenhälften und vor allem hupten sie nicht ständig. In den Geschäften gab es grundsätzlich ein anderes Warenangebot. Das fing bei den Lebensmitteln an und endete nicht bei der Bekleidung, den Möbeln und vielen anderen Einrichtungsgegenständen.
    Bei dem geringen Verdienst konnten sich meine Eltern ohnehin nur wenige Dinge leisten. Für Miete und Nebenkosten kam zwar die Firma Pottendorf auf, dennoch war mit beiden Löhnen nur ein bescheidenes Leben möglich. Emanzipatorischer Wille hin oder her – langfristig boten diese Umstände meinen Eltern keine Perspektive. Das war nicht ihr Ziel, in einer quasi 1,5-Zimmer-Wohnung mit zwei kleinen Kindern zu leben und sich kaum etwas leisten zu können. Da mein Vater bereits als Gastarbeiter in Deutschland tätig gewesen war, verglich er ständig seinen damaligen Verdienst mit dem jetzigen. Er rechnete und rechnete und konnte es kaum glauben. In Deutschland hatte er dreimal so viel verdient. Zudem war die Kaufkraft der DM weitaus stärker als die des Schillings. Man konnte sich in Deutschland viel mehr leisten.

    So verging schnell ein ganzes Jahr, in dem mein Vater nicht damit aufhörte, von einem besseren Leben in Deutschland zu berichten. Außerdem hatte er sich dort viel wohler gefühlt als nun in Österreich. Nach und nach machte er meine Mutter neugierig und so entstand bald ein neuer Plan: die Übersiedlung nach Deutschland. Mein Vater hatte aus seiner Zeit als Gastarbeiter noch Bekannte in Esslingen. An einem freien Wochenende besuchte er sie und erkundigte sich nach Arbeitsstellen. Allerdings fand er in Esslingen keinegeeigneten Fabriken und reiste unverrichteter Dinge nach Österreich zurück.
    In der Zwischenzeit war auch Kalbiyes Ehemann Ayhan als Gastarbeiter nach Felixdorf gekommen. Auch er fand Arbeit in der Pottendorfer Textilfabrik. Die Freude über das Zusammenkommen war natürlich groß, denn alle mochten sich. Die Frauen hatte das Abenteuer Immigration zusammen bestritten. Die Männer kannten sich schon mehrere Jahre. Zudem machte das Arbeiten mit Freunden viel mehr Spaß. An freien Wochenenden kochten die Frauen gemeinsam, es wurde

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