Doener, Machos und Migranten
erzählte er mir, dass er noch nie das Meer gesehen hatte. Kaum vorstellbar, dennoch war er leider nicht das einzige Kind in meiner Klasse, dem es so ging. Haki strahlte und genoss die Klassenfahrt in vollen Zügen. In der Regel sprach er in Anwesenheit seiner Klassenkameraden sehr wenig und antwortete meist in kurzen Sätzen. Nur wenn wir allein waren, traute er sich, auch einmal von sich aus das Gespräch zu suchen.
Im Laufe des siebten Schuljahres musste ich jedoch eine negative Veränderung in seinem Verhalten beobachten. Er wirkte sehr oft unkonzentriert und seine Motivation, sich mit neuen Unterrichtsinhalten vertraut zu machen, ließ enorm nach. Manchmal sagte er auch Sätze wie: «Alles Scheiße». Es kam nun hin und wieder sogar vor, dass er unentschuldigt fehlte. Da ich ihn bei Abwesenheit wirklich vermisste, rief ich sofort bei seinen Eltern zu Hause an. Im Hintergrund lief immer sehr laute Musik und man hatte den Eindruck, viele Menschen würden sich in der Wohnung aufhalten, was auch stimmte. Es dauerte jedes Mal sehr lange, bis irgendein Verwandter, derdeutsch sprach, ans Telefon gerufen wurde. Hakis Schwester hatte mittlerweile geheiratet und lebte mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern bei ihren Schwiegereltern.
Der Mann sprach sehr gut deutsch und erschien mit Haki zu einem Gespräch in der Schule. Dabei stellte sich heraus, dass Haki die Schule schwänzte. Im Beisein seines Schwagers versprach der Junge, wieder täglich zum Unterricht zu kommen. Ich vermutete die Pubertät als Hauptursache für sein verändertes Verhalten. Neben den üblichen Irrungen und Wirrungen, die ein junger Mensch während der Pubertät durchlebt, kamen bei ihm noch andere Einflüsse zum Tragen. So erzählte er mir einmal unter vier Augen, dass er seine Wochenenden öfter mit seinen älteren Cousins verbrachte. Sie seien 17 und 18 Jahre alt und würden regelmäßig «Haschisch» konsumieren. Er beschrieb mir die Wirkung der Cannabisdroge und es war ausgeschlossen, dass er sich mir gegenüber nur aufspielen wollte. Dafür kannte er sich erschreckend gut aus. Als ich ihn auf die negativen Nebenwirkungen und Strafbarkeit ansprach, versicherte er mir, dass er selbst kein Konsument sei.
Was sollte ich in dieser Situation tun? Die Eltern informieren? Haki hatte mir zuvor das Versprechen abgenommen, über das zu schweigen, was er mir erzählte. Nach einem Gespräch mit seinen Eltern hätte ich sein Vertrauen verspielt und noch weniger Einfluss als vorher. Also beschloss ich, im Deutschunterricht das Thema Drogen zu thematisieren. Mehr als Aufklärung war im Rahmen meiner beschränkten Einwirkungsmöglichkeiten nicht zu erreichen. Dessen war ich mir bewusst. Das Thema Drogen schien zumindest alle anderen Schüler auch sehr zu interessieren, was sich an der regen Mitarbeit bemerkbar machte.
Im weiteren Verlauf des Schuljahres nahm Hakis Motivation immer weiter ab. Auch die Lebensfreude, die er bislang stets ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Er begegnete mir weiterhin höflich und respektvoll, vertrauliche Gespräche fanden jedoch nicht mehr statt. Am Ende des Schuljahres trennten sich unsere Wege. Ich bekam eine neue Klasse und meine ehemalige Klasse einen neuen Klassenlehrer.
Ob der Aufklärungsunterricht sich positiv in seinem Leben auswirken wird, bleibt fraglich. Die Entscheidung darüber, wie jemand mit Drogen verfährt, trifft letztendlich jeder für sich selbst. Wir können Schülern wie Haki nur eine andere Lebensweise vorleben und auf Gefahren aufmerksam machen. Was jeder Einzelne dann daraus macht, bleibt ihm allein überlassen.
8. Das Lolita-Phänomen – Laura
Wer all die Schülerporträts liest, könnte schnell den Eindruck bekommen, als gäbe es nur Schwierigkeiten mit Kindern aus Migrantenfamilien. Doch eine Förderschule ist eine Art Schmelztiegel der Probleme. Überforderte Eltern und «gestörte» Kinder gibt es in allen Kulturkreisen. Daher soll hier von Laura die Rede sein, einem Mädchen aus einer deutschen Familie. Auch sie ist ein «problematisches» Kind. Wie ihre Geschichte am Ende ausgehen wird, bleibt allerdings offen.
Laura besuchte zunächst eine Förderschule in einem anderen Gelsenkirchener Stadtteil. Dort lag der Förderschwerpunkt auf «Lernen». Ihr Schulwechsel fand drei Monate vor Schuljahresende statt, ein Zeitpunkt, der alles andere als günstig für eine Schülerin oder einen Schüler ist. Grund für dieNeuanmeldung an unserer Schule war nicht – wie sonst meist üblich – ein
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