Dogma
Krieger wird in der Inschrift zu dem Fresko als ‹die eine wahre Hand› beschrieben, die die Heiden abgewehrt habe. Und auf dem Gemälde ist eine Hand von ihm zu sehen, aber die andere fehlt – die linke. Ich habe immer angenommen, das sei eine Metapher, wissen Sie, eine dieser phantastischen Legenden aus der Zeit der Kreuzzüge.» Der Byzantinist schwieg, dann fügte er mit Betonung hinzu: «Der Mann von dem Fresko wurde in der Krypta der Kirche beigesetzt. Ich denke, er könnte Ihr Conrad sein.»
«‹Die eine wahre Hand›», wiederholte der Iraner und warf Tess einen zufriedenen Blick zu. Das klingt vielversprechend, schien der Blick zu sagen. «Ich denke, ich würde mir diese Kirche gern einmal ansehen.»
An dem Höhenkamm am Rand der Ebene, die sie überquert hatten, wurde Reillys Pferd langsamer. Hinter dem mit wildem Lavendel und Beifußsträuchern bewachsenen Hang erstreckte sich eine weite Ebene bis zu den fernen Bergen im Süden. Reilly hielt für einen Moment inne, um sich zu orientieren. Seine Schenkel und sein Rücken schmerzten von dem langen Ritt ohne Sattel. Auch das erhitzte Tier brauchte dringend eine Atempause.
Es war windstill, und das Tal lag ruhig und verlassen da. Dann nahm Reilly zu seiner Linken eine Bewegung wahr. Als er hinschaute, sah er eine alte Frau, die unter einer Gruppe Mandelbäume stand und mit ihrem Gehstock gegen die Zweige schlug. Frische Blätter fielen zu Boden, wo eine kleine Herde Schafe sich an ihnen gütlich tat. Nach Jahrhunderten dieser Behandlung waren die Bäume sämtlich verkrüppelt. Die alte Frau bemerkte, dass Reilly auf sie aufmerksam geworden war, schaute zu ihm hinüber und musterte ihn ohne großes Interesse. Dann wandte sie sich ab und widmete sich wieder ihrer Beschäftigung.
Reilly zog seine Karte hervor und glich sie mit der Landschaft, die vor ihm lag, ab. Das Tal war eine beigefarbene Ebene, begrenzt von sanft gewellten Felsformationen und mit vereinzelten Grüppchen von Pinien, Aprikosenhainen und Weinstöcken durchsetzt. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die linke Seite des Tales, den Bereich, den Tess auf der Karte eingekreist hatte. Dort waren dunkle, gezackte Linien auszumachen – Schluchten, die das Tal durchzogen –, aber kein Anzeichen von Leben. Über Meilen hinweg nichts als unberührte Natur – und dann bemerkte er es.
Da regte sich etwas. Ein dunkler Fleck am Rand einer Schlucht, knapp einen Kilometer entfernt.
Er zog sein Fernglas hervor.
Trotz der Entfernung waren die vertrauten Silhouetten unverkennbar. Das waren sie – Tess, der Iraner und noch eine Person, jemand, den er nicht kannte.
Reilly fiel ein wahrer Felsbrocken vom Herzen. Eine Woge der Erleichterung durchströmte ihn bei ihrem Anblick. Sie war weder frei noch in Sicherheit, aber wenigstens hatte er sie eingeholt.
Die drei Gestalten bewegten sich auf eine Baumgruppe zu, wo Reilly ein Fahrzeug stehen sah, einen beigefarbenen Geländewagen, den er als Jeep Cherokee erkannte, die kleinere, kastenförmige und ziemlich veraltete Variante. Reilly konzentrierte sich auf die dritte Gestalt, fragte sich, ob es ein Freund oder Feind war, dann sah er, wie alle drei in den Wagen stiegen. Der Unbekannte saß am Steuer, Tess neben ihm und der Iraner auf dem Rücksitz. Es war durch nichts zu erkennen, ob der Fahrer ein Verbündeter des Iraners war oder vielleicht nur dessen nichtsahnendes Werkzeug, ein örtlicher Fremdenführer oder dergleichen. Vorerst musste Reilly allerdings annehmen, dass es sich um einen Feind handelte. Doch im Augenblick machte das keinen Unterschied, er hatte andere Sorgen. Bei dem Gedanken, was da gerade geschah, krampfte sich ihm der Magen zusammen.
Sie fuhren davon, entfernten sich weiter von ihm – und er lag bereits um fast einen Kilometer zurück und saß auf einem Pferd, das mehr tot als lebendig war.
Er trieb die Mähre an, trat mit den Fersen, schrie und schlug auf den Rist, um sie in Bewegung zu bringen. Das erschöpfte Tier trottete los, scheute jedoch vor dem Gefälle.
«Komm schon, verdammt, schneller», rief Reilly, drückte die Schenkel in die Flanken des Pferdes und stupste von hinten gegen die Vorderbeine. Widerwillig lief das Tier ein wenig schneller und stolperte endlich unter Protestwiehern, kleine Staubwolken aufwirbelnd, den Hang hinunter. Dabei bemühte sich Reilly, den Jeep nicht aus den Augen zu verlieren, der in westlicher Richtung über die Ebene holperte. Auf ebenem Grund angekommen, lenkte er das Pferd nach
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