Dogma
einer der sogenannten kappadokischen Väter, von einer Ägyptenreise den Gedanken des Mönchtums mit, das er dort kennengelernt hatte. Bald nisteten sich Mönche wie Maulwürfe hier ein und besiedelten die Region in den unterschiedlichsten Formen, von einzelnen Gebetsklausen in drei Meter breiten Felsnadeln bis hin zu in den Fels gegrabenen Kirchen von bemerkenswerter Pracht, ja sogar Klöstern, deren übereinander angelegte Stockwerke bis hoch in die Klippen reichten.
Und nicht nur überirdisch wurde auf diese Weise gebaut. Unter dem Ansturm mongolischer und muslimischer Eroberer zogen sich die Verfolgten auch unter die Erde zurück. Über die Region verteilt gab es Dutzende unterirdischer Städte, deren Geschichte teilweise bis in die Zeit der Hethiter zurückreichte und von denen viele bis in die Gegenwart nicht vollständig erforscht waren. Manche reichten bis zu einem Dutzend Ebenen tief unter die Erde, womöglich sogar noch tiefer – gigantische Labyrinthe aus Tunneln, Wohnquartieren und Lagerräumen. Mit ihren raffiniert angelegten Belüftungsschächten und Zugängen, die mit tonnenschweren «Mühlsteinen» gegen Feinde gesichert waren, dienten sie ganzen Gemeinden als Zufluchtsstätten, wann immer über der Erde die Horden der Eroberer wüteten. So konnte die orthodoxe christliche Bevölkerung sich in den Tälern halten und sogar die jahrhundertelange Seldschuken- und Osmanenherrschaft ohne größere Verluste überdauern.
Ironischerweise wurden die Christen erst 1923, in der Anfangszeit der Türkischen Republik, aus der Region vertrieben. Im Rahmen des Repatriierungsabkommens, das nach dem griechisch-türkischen Krieg geschlossen wurde, hatte man die orthodoxe Bevölkerung nach Griechenland zwangsumgesiedelt, und an ihrer Stelle nahmen muslimische Türken die Täler in Besitz. Seit dieser Zeit waren die Kirchen und Klöster nach und nach zu Ruinen verkommen, teils durch den Zahn der Zeit, teils durch mutwillige Zerstörung – ein trauriges Ende für das letzte Relikt des glanzvollen Byzanz, dessen Aufstieg mehr als anderthalb Jahrtausende zuvor begonnen hatte.
Angesichts der zehn Meter hohen Felskegel, zwischen denen sie sich einen Weg bahnten, fiel es Tess schwer, sich vorzustellen, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. In ihrer Erschöpfung sah sie die Höhlen eher als Behausung von Trollen, und ihre Phantasie beschwor beängstigende Bilder von Morlocks und Sandmenschen herauf, die aus dem Dunkel hervorkrochen und sie mit sich zerrten.
Durch die Benommenheit drang Zaheds Stimme in ihr Bewusstsein.
«Wo sind die ganzen Touristen?», fragte er Abdülkerim. «Man kommt sich hier ja vor wie in einer Geisterstadt.»
Obwohl das Tal ein Nationalpark war, waren sie nicht mehr als einem halben Dutzend kleinerer Grüppchen begegnet, die die Gegend erkundeten.
«In den Fünfzigern wurden dieses Tal und die beiden daneben zum Gefahrengebiet erklärt», erwiderte der Byzantinist. «Die Höhlen waren einsturzgefährdet. Alle Leute aus dem Dorf wurden in eine neue Ort ein paar Kilometer weiter umgesiedelt, und heutzutage Touristen zieht sichere Gegend vor, wie Göreme.»
«Je weniger, desto besser», stellte Zahed fest und blickte grimmig voraus. «Wie weit noch?»
«Wir sind gleich da.»
Augenblicke später hatten sie das Felsendorf hinter sich gelassen und standen vor einer glatten Steilwand. Die Sonne stand mittlerweile tief, und ihre Strahlen tauchten die Mondlandschaft in ein eindrucksvolles Meer von Rosa- und Blautönen.
«Hier ist es», verkündete der Byzantinist.
Die Klippe sah nach nichts Besonderem aus, bis Abdülkerim nach oben deutete. Als Tess aufblickte, sah sie gut fünfzehn Meter über sich eine rechteckige Höhle in der Felswand klaffen: ein offener Raum beziehungsweise der Teil eines Raumes, der in den Felsen gegraben war.
«Die Außenwand der Kirche ist vor Jahrhunderten bei einem Bergrutsch eingestürzt», erklärte Abdülkerim. «Zusammen mit dem Eingangstunnel und den Stufen, die nach oben führten.»
«Und wie kommen wir jetzt da rauf?», fragte Zahed.
«Hier entlang.» Der Türke führte sie zum Rand der Klippe und wies auf eine Reihe von Steiglöchern, die in den glatten Tuffstein geschlagen waren.
«Sie voran», befahl Zahed.
Abdülkerim gehorchte. Ihm folgte Tess und zuletzt Zahed. So kletterten sie an der Wand aus brüchigem Gestein hinauf, bis sie einen kleinen Vorsprung erreichten, von dem aus wiederum steile, verwitterte Stufen zu der offenen Kammer
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