Dogma
Das ist wahre Macht. Und wenn wir sie bestmöglich für unsere Zwecke nutzen wollen, müssen wir sie beschützen.»
Der spanische Bischof räusperte sich. «Ihr habt viel erreicht, Hoheit. Ihr könnt ihrer Verfolgung ein Ende machen. Ihr habt sie mit Schenkungen und Steuererlassen überschüttet und ihnen ermöglicht, in die herrschende Klasse aufzusteigen, Wohlstand zu erlangen und ihre Botschaft zu verbreiten.»
«Ja», stimmte der Kaiser zu, «und dadurch wird dieses Reich zum größten in der Geschichte der Menschheit werden. Deshalb kann ich nicht zulassen, dass diese Botschaft – diese Vision – verfälscht wird. Dieser sanfte Revolutionär von vor dreihundert Jahren ist mein Wegbereiter, er ist das Werkzeug, das mir ermöglicht hat, dieses Reich zu einen und eine gottgegebene Herrschaft über das Volk auszuüben. Etwas zuzulassen, was diese Lehre bedroht, wäre äußerst unklug – und gefährlich für uns alle.»
Sosehr der pragmatische Herrscher in ihm sich Gedanken um die Zwistigkeiten machte, der abergläubische Teil von Konstantin war einfach nur besorgt. Er fürchtete, Brüche innerhalb der Kirche seien das Werk des Teufels und eine gespaltene Kirche könne Gott beleidigen und seinen Zorn auf sich ziehen. Konstantin musste das Werk des Teufels vereiteln. Er sah sich selbst als Nachfolger der Evangelisten, als einen Mann, dessen göttlicher Auftrag es war, das Christentum zu schützen und das Wort Gottes bis in die entlegensten Teile seines Reiches und über dessen Grenzen hinaus zu verbreiten.
Ein dreizehnter Apostel.
Er musste den Zwistigkeiten innerhalb der Religion ein Ende machen.
Aus all diesen Gründen hatte er die Bischöfe seines Reiches nach Nicäa gerufen und ihnen unmissverständlich klargemacht, sie würden den Kaiserpalast nicht wieder verlassen, ehe sie nicht ihren Streit beigelegt und sich darüber geeinigt hätten, welche Geschichte sie von ihren Kanzeln predigten.
Eine Geschichte.
Ein Dogma.
Keine Abweichungen.
Nach vielen Wochen hitziger Debatten waren sie schließlich zu einer Einigung gelangt.
Sie hatten ihre Geschichte.
Hosius saß eine ganze Weile lang schweigend da und beobachtete den Kaiser. Schließlich begann er zögernd: «Ein Letztes wäre noch zu klären, Euer Hoheit.»
Konstantin wandte sich um und sah ihn neugierig an. «Ja?»
«Die Schriften», fragte Hosius, «was soll mit ihnen geschehen?»
Konstantin runzelte die Stirn. Die Schriften … die teuflischen Werke, die so viel Zwietracht gesät hatten. Alte Texte, Evangelien und Sinnschriften aus der Geburtsstunde des Glaubens, die allerlei Fragen aufwarfen.
Unbequeme Fragen.
«Wir haben uns auf eine gemeinsame Lehre verständigt», sagte der Kaiser. «Wir haben uns geeinigt, wie in Zukunft die Wahrheit der Evangelien aussehen soll. Es besteht kein Anlass, hier weitere Unklarheit zu schaffen.»
«Was wollt Ihr damit sagen, Hoheit?»
Konstantin überlegte einen Moment lang, und ein Schauder des Zweifels lief ihm den Rücken hinunter.
«Verbrennt sie», wies er seinen vertrauten Berater schließlich an. «Verbrennt sie alle.»
Hosius dachte an die Worte des Kaisers zurück, während er im Halbdunkel des Kutschenhauses zusah, wie seine zwei Akolythen das Fuhrwerk beluden.
Er verstand die Entscheidung des Kaisers, stimmte in vielerlei Hinsicht sogar mit Konstantin überein. Es wäre das Klügste. Die Texte waren in der Tat gefährlich.
Hosius war eingehend mit den Debatten vertraut, die im Herzen des Glaubens getobt hatten. Er war selbst Zeuge gewesen, mit welchem Eifer die verschiedenen christlichen Strömungen ihren Standpunkt vertraten. Allein im vergangenen Jahr hatte der Kaiser ihn zweimal nach Antiochia entsandt, damit er in solchen theologischen Disputen vermittelte. Das war keine angenehme Aufgabe gewesen.
Aber er hegte auch seine Zweifel.
Ja, der Glaube musste unter einer gemeinsamen Vision geeint werden. Ja, ein geeinter Glaube würde eine Epoche nie da gewesenen Friedens und Wohlstands einläuten.
Aber um welchen Preis?
Hosius wusste, wenn Konstantin sein Werk vollendet hatte, würde das Christentum weitaus mehr Ähnlichkeit mit den heidnischen Religionen haben, die es verdrängte – insbesondere mit dem Mithraismus und dem Kult des Sol Invictus –, als mit dem Judentum, aus dem es hervorgegangen war. Das war unvermeidlich. Die meisten Untertanen des Kaisers waren Heiden. Um sie für die neue Religion zu gewinnen, musste man einen gleitenden Übergang schaffen. Man konnte sie
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