Dogma
Nylonhaut trieben im ansteigenden Wasser.
Das würde genügen müssen.
Reilly griff nach ihr, zog sie zu sich heran und suchte nach einem Stück, das für seinen Zweck groß genug war. Er fand einen Teil, mit dem es gehen konnte, ein Stück aus dem runden Wulst, der den Rand der Rettungsinsel bildete. Reilly zog sein Messer aus dem Gürtel und bearbeitete die Nylonhaut damit, bis er ein Stück in Form eines Seesacks herausgeschnitten hatte: an einem Ende offen, am anderen geschlossen.
Das Wasser stand ihm jetzt bis zu den Knien und stieg schnell höher.
Er watete zu den Kisten hinüber, riss eine auf und begann, die ledergebundenen Kodizes in den Nylonschlauch zu stapeln, einen nach dem anderen. Ihm war klar, dass er sie längst nicht mit der Sorgfalt behandelte, die sie verdient hätten, aber er hatte keine Wahl. Ihm war auch klar, dass er nicht alle retten konnte. Aber wenn es ihm gelang, auch nur einen Teil in Sicherheit zu bringen, nur einen kleinen Teil, dann wäre schon etwas erreicht.
Das Wasser schwappte bereits um seine Oberschenkel.
Reilly gab nicht auf. Er riss den Deckel der zweiten Kiste auf und packte auch deren Inhalt ein.
Jetzt reichte ihm das Wasser bis zur Taille. Und damit stand die dritte Kiste unter Wasser.
Er musste Schluss machen. Er musste versuchen, das offene Ende des Nylonschlauchs zu verschließen, und schleunigst zusehen, dass er hinauskam. Wenn er noch länger zögerte, würde er in der Kabine eingeschlossen werden.
Er drehte den Schlauch zu, so fest er konnte. Sicher war das kein wasserdichter Verschluss, aber besser ging es nun einmal nicht. Dann umklammerte er den Sack und kämpfte sich gegen das einströmende Wasser zur Kabinentür vor.
Es war, als versuchte man, während eines Monsuns ein Regenabflussrohr hinaufzuklettern.
Reilly holte tief Luft, tauchte unter und wand sich durch die schmale Öffnung, in einer Hand den Nylonbeutel, in der anderen die Notfalltasche.
Als er auf der anderen Seite wieder auftauchte, war das Flugzeug bereits halb versunken. Reilly kletterte auf die Tragfläche, kroch bis zum Triebwerk, das gerade noch über die Wasseroberfläche ragte, und setzte sich darauf. Dann kramte er in der Notfalltasche nach einer Rettungsweste, streifte sie über und aktivierte sie. In der Tasche fand er auch eine Notfunkbake, die er an der Rettungsweste befestigte und ebenfalls aktivierte.
Als auch das Triebwerk unter Wasser sank, rutschte Reilly über den Flugzeugrumpf immer weiter nach hinten. Kaum eine Minute später ging die Heckflosse der Conquest unter, und er trieb frei im Wasser. Das Flugzeug verschwand als gespenstische weiße Silhouette in der dunklen Tiefe.
Reilly umklammerte das zugedrehte Ende des Nylonschlauchs mit beiden Händen, so fest er konnte, um zu verhindern, dass Wasser eindrang. Dabei war ihm klar, welch hoffnungsloses Unterfangen das war. Er sah bereits das Wasser durch die Falten der Hülle eindringen. Das Material war nicht auf Geschmeidigkeit ausgelegt, sein Zweck war, robust und widerstandsfähig zu sein und schwerer See standzuhalten. Sosehr Reilly sich auch anstrengte, es war vergebens.
Mit jeder Minute drang mehr Wasser ein. Und je mehr Wasser eindrang, umso schwerer wurde der Sack. Nach nicht einmal einer halben Stunde waren Reillys Kraftreserven restlos verbraucht, und er konnte seine Last nicht länger über Wasser halten. Sie war einfach zu schwer. Außerdem war es wahrscheinlich ohnehin zwecklos – die Schriften waren bereits völlig durchnässt, zerstört, der Schatz an Informationen in ihnen für immer verloren. Wenn er sich noch länger daran klammerte, würden sie ihn womöglich bald mit sich in die Tiefe ziehen.
Mit einem langen, gequälten Aufschrei ließ er los.
Sie trieben ab und waren gleich darauf verschwunden, ein gelber Nylonschlauch von unschätzbarem Wert, und nur er blieb zurück, ziellos umhertreibend, ein einsames Fleckchen Leben in einer gnadenlosen See.
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Kapitel Sechsundsechzig
Reilly war der Ohnmacht nahe. Jedes Mal, wenn sein Geist und sein Körper gänzlich abschalten wollten, holte das kühle Wasser, das gegen seinen Kopf schwappte, ihn ins Bewusstsein zurück.
Das Meer war ihm gnädig; er wurde nur von einer sanften Dünung geschaukelt, die es ihm noch schwerer machte, wach zu bleiben. Aber gegen Abend würde es kälter werden, und die Wellen würden zunehmen. Die Rettungsweste konnte ihn über Wasser halten, aber sie konnte ihn nicht am Leben halten, wenn die See rauer
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