Dogma
dabei nahm er die Frage insgeheim alles andere als leicht.
«Wir haben soeben mehrere Stunden damit zugebracht, praktisch jede Stellung aus dem Kamasutra auszuprobieren. Ich denke, das sagt schon etwas über die derzeitige Beziehung zwischen uns aus, findest du nicht? Aber können wir bitte einfach … nicht jetzt, okay?»
«Klar.» Er grinste ein wenig, um dem Augenblick die Spannung zu nehmen, und beschloss, das Thema vorerst ruhen zu lassen. Was sie gerade erst durchgemacht hatten, war keine gute Grundlage für ein ernsthaftes Gespräch über sie beide. Er hielt es Tess gegenüber nicht für fair, nicht in ihrer angeschlagenen Verfassung.
Stattdessen lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung. «Sag mal … diese Truhen, die Schriften, von denen in der Beichte des Mönchs die Rede ist – der Kardinal wollte nicht recht mit der Sprache herausrücken, als ich ihn fragte, worum es sich dabei handeln könnte. Du hast doch bestimmt mit Simmons darüber gesprochen. Hast du eine Ahnung?»
«Schon, aber … wir konnten auch nur raten.»
«Und was rätst du?»
Sie runzelte die Stirn. «Das ‹Werk des Teufels, von seiner Hand geschrieben mit Gift aus den Abgründen der Hölle› und so weiter … Klingt ganz schön grausig, nicht? Und es ist etwas, das man normalerweise nicht mit den Templern in Verbindung bringen würde.»
«Du aber schon?»
Tess zuckte die Schultern. «In gewisser Weise. Die Sache ist die, man muss das Ganze im historischen Zusammenhang betrachten. Die Ereignisse, die in dem Tagebuch beschrieben sind, mit Conrad und den Mönchen … All das geschah 1310. Drei Jahre nachdem alle Templer verhaftet wurden. Wie es zu dieser Aktion kam – und warum gerade dann –, das könnte helfen zu erklären, worum es bei alldem geht.»
«Ich höre.»
Tess’ Gesicht begann zu leuchten, wie immer, wenn sie sich für etwas ereiferte. Sie rutschte etwas nach oben, bis sie bequem saß. «Okay. Also zu den Hintergründen. Ende 13., Anfang 14. Jahrhundert. Das westliche Europa macht schwere Zeiten durch. Nach mehreren Jahrhunderten warmen Klimas ist das Wetter jetzt starken, unberechenbaren Schwankungen unterworfen, es wird deutlich kälter und regnerischer. Ernten fallen aus. Krankheiten grassieren. Das war der Beginn einer Periode, die man als ‹Kleine Eiszeit› bezeichnet und die – man mag es kaum glauben – bis vor hundertfünfzig Jahren andauerte. Von 1315 an regnet es drei Jahre lang fast ununterbrochen, was zur Großen Hungersnot führt. Das gemeine Volk lebt also wirklich in tiefstem Elend. Und hinzu kommt, dass sie gerade erst ihr Heiliges Land verloren haben. Der Papst hatte ihnen erzählt, die Kreuzzüge seien von Gott gewollt und stünden unter seinem Segen – aber sie sind gescheitert. Die Kreuzritter haben Jerusalem verloren und wurden schließlich 1291 auch aus der letzten christlichen Hochburg, aus Akkon, vertrieben. Vergiss nicht, die Kirche hatte jahrhundertelang den Beginn des neuen Jahrtausends als Meilenstein gesetzt: als die Parusie, die Wiederkunft Christi. Sie haben den Leuten eingeschärft, sie müssten sich noch vor der Jahrtausendwende zum Christentum bekehren und der Autorität der Kirche unterwerfen, sonst würde ihnen ihr ewiger Lohn entgehen. Deshalb kam in jener Zeit ein starker religiöser Eifer auf. Als dann jedoch nichts geschah und die Jahrtausendwende ohne das erwartete große Ereignis vorüberging, musste die Kirche etwas anderes finden, um die Gläubigen abzulenken, fast wie eine Entschuldigung. Und so setzten sie sich zum Ziel, das Heilige Land von der muslimischen Herrschaft zu befreien. Der Papst dachte sich die Kreuzzüge aus und stellte es so dar, als würde damit eine göttliche Erwartung erfüllt, als seien sie die krönende Leistung dieser ganzen Bewegung, der Beginn eines neuen Zeitalters des Triumphs für das Christentum. Die Kirche ging sogar so weit, einen radikalen Richtungswechsel zu vollziehen. Bisher hatten sie Frieden und Eintracht und Nächstenliebe gepredigt, jetzt auf einmal das Gegenteil: Der Papst setzte sich für den Krieg ein und sagte zu seinen Anhängern: Gott wird euch von allen Verbrechen, die ihr begangen habt, freisprechen, wenn ihr loszieht und die Heiden im Heiligen Land niedermetzelt. Es hing also eine Menge davon ab, das Heilige Land zurückzuerobern. Als dieses Unternehmen scheiterte, war das ein schwerer Schlag. Ein vernichtender Schlag. Die Menschen bekamen Angst. Sie fragten sich, ob Gott ihnen zürnte oder ob eine
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