Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
zwanzig Monate vor Ausbruch des vorigen Krieges, lautet, als Adrian mit Rüdiger Schildknapp von Palestrina nach München zurückkehrte und für sein Teil zunächst in einer Schwabinger Fremdenpension (Pension Gisella) Wohnung nahm. Ich weiß nicht, warum diese doppelte Zeitrechnung meine Aufmerksamkeit fesselt, und weshalb es mich drängt, auf sie hinzuweisen: die persönliche und die sachliche, die Zeit, in der der Erzähler sich fortbewegt, und die, in welcher {367} das Erzählte sich abspielt. Es ist dies eine ganz eigentümliche Verschränkung der Zeitläufe, dazu bestimmt übrigens, sich noch mit einem Dritten zu verbinden: nämlich der Zeit, die eines Tages der Leser sich zur geneigten Rezeption des Mitgeteilten nehmen wird, so daß dieser es also mit einer dreifachen Zeitordnung zu tun hat: seiner eigenen, derjenigen des Chronisten und der historischen.
    Ich will mich in diese Spekulationen, die in meinen eigenen Augen das Gepräge einer gewissen erregten Müßigkeit tragen, nicht weiter verlieren und nur hinzufügen, daß das Wort »historisch« mit weit düstererer Vehemenz auf die Zeit zutrifft,
in
welcher –, als auf die,
über
welche ich schreibe. In den letzten Tagen wütete der Kampf um Odessa, eine verlustreiche Schlacht, die mit dem Fall der berühmten Stadt am Schwarzen Meer in die Hände der Russen geendet hat, ohne daß freilich der Gegner vermocht hätte, unsere Ablösungsoperationen zu stören. Er wird dazu auch gewiß in Sebastopol nicht imstande sein, einem anderen unserer Faustpfänder, das der offenbar überlegene Gegner uns nunmehr entreißen zu wollen scheint. Unterdessen wächst der Schrecken der fast täglichen Luftangriffe auf unsere wohlumgürtete Festung Europa ins Überdimensionale. Was hilft es, daß viele dieser ein immer sprengmächtigeres Verderben niedersendenden Ungeheuer unserer heldenhaften Abwehr zum Opfer fallen? Tausende verdunkeln den Himmel des kühn geeinten Kontinents, und immer weitere unserer Städte sinken in Trümmer. Leipzig, das in Leverkühns Werdegang, seiner Lebenstragödie, eine so bedeutsame Rolle spielt, hat es letzthin mit voller Wucht getroffen: sein berühmtes Verlagsviertel ist, wie ich hören muß, nur noch eine Schutthalde und unermeßliches literarisches Lehr- und Nutzgut ein Raub der Zerstörung geworden – ein schwerster Verlust nicht nur für uns Deutsche, sondern für die bildungsbeflissene Welt überhaupt, die ihn aber verblendeter oder richtiger Weise  {368} – ich wage das nicht zu entscheiden – in Kauf nehmen zu wollen scheint.
    Ja, ich fürchte, es wird uns zum Verderben ausschlagen, daß eine fatal inspirierte Politik uns zugleich mit der menschenreichsten, überdies revolutionär gehobenen Macht und der an Erzeugungskapazität gewaltigsten in Konflikt gebracht hat, – wie es ja aussieht, als ob diese amerikanische Produktionsmaschine nicht einmal auf höchsten Touren zu laufen brauchte, um eine alles erdrückende Fülle von Kriegsgerät hervorzuschleudern. Daß die entnervten Demokratien diese furchtbaren Mittel sogar zu benutzen wissen, ist eine verblüffende, eine ernüchternde Erfahrung, unter der wir uns täglich mehr des Irrtums entwöhnen, als sei der Krieg ein deutsches Prärogativ, und in der Kunst der Gewalt müßten andere sich als dilettantische Stümper erweisen. Wir haben angefangen, (Monsignore Hinterpförtner und ich sind darin keine Ausnahmen mehr), uns von der Kriegstechnik der Anglosachsen durchaus aller Dinge zu versehen, und die Invasionsspannung wächst: Der Angriff von allen Seiten, mit überlegenem Material und Millionen Soldaten auf unser europäisches Kastell – oder soll ich sagen: unser Gefängnis, soll ich sagen: unser Narrenhaus? – wird
erwartet
, und nur die eindrucksvollsten Schilderungen der gegen die feindliche Landung getroffenen Vorkehrungen, die wahrhaft großartig zu sein scheinen, – Vorkehrungen, dazu bestimmt, uns und den Erdteil vor dem Verlust unserer gegenwärtigen Führer zu schützen – vermögen dem allgemeinen Grauen vor dem Kommenden ein seelisches Gegengewicht zu halten.
    Gewiß, die Zeit, in der ich schreibe, hat ungleich mächtigeren geschichtlichen Impetus, als die, von der ich schreibe, die Zeit Adrians, die ihn nur an die Schwelle unserer unglaubwürdigen Epoche führte, und mir ist zu Mute, als sollte man ihm, als sollte man all denen, die nicht mehr mit uns sind und {369} nicht mehr mit uns waren, als dies begann, ein »Wohl euch!«, ein herzliches »Ruht in

Weitere Kostenlose Bücher