Doktor Faustus
Selbstverständliche aufzulösen, daß jeder das Neue fasse; sich zu ihrem Herrn zu machen, indem man sie unbefangen als freies Baumaterial verwendete und Tradition {468} spüren ließ, umgeprägt ins Gegenteil des Epigonalen; das Handwerk, hochgetrieben wie es war, durchaus unauffällig zu machen und alle Künste des Kontrapunkts und der Instrumentation verschwinden und verschmelzen zu lassen zu einer Einfachheitswirkung, sehr fern von Einfalt, einer intellektuell federnden Schlichtheit, – das schien die Aufgabe, das Begehren der Kunst.
Es war ganz vorwiegend Adrian, der sprach, von uns anderen nur leicht sekundiert. Von der vorangegangenen Vorführung erregt, sprach er mit geröteten Wangen und erhitzten Augen, leicht fieberhaft, übrigens nicht in strömendem Fluß, sondern die Worte mehr hinwerfend, aber doch mit so viel Bewegung, daß mir war, als hätte ich ihn nie, weder gegen mich, noch in Rüdigers Gegenwart, so eloquent aus sich herausgetrieben gesehen. Schildknapp hatte seinem Unglauben Ausdruck gegeben an die Entromantisierung der Musik. Diese sei mit dem Romantischen doch wohl zu tief und wesentlich verbunden, als daß sie es ohne schwere natürliche Einbuße je würde verleugnen können. Hierauf Adrian:
»Ich will Ihnen gern recht geben, wenn Sie mit dem Romantischen eine Gefühlswärme meinen, die die Musik im Dienst technischer Geistigkeit heute verleugnet. Es ist wohl Selbstverleugnung. Aber was wir die Läuterung des Komplizierten zum Einfachen nannten, ist im Grunde dasselbe, wie die Wiedergewinnung des Vitalen und der Gefühlskraft. Wenn es möglich wäre – wem der – wie würdest du sagen?« wandte er sich an mich und antwortete sich selbst: »der
Durchbruch
würdest du sagen. Wem also der
Durchbruch
gelänge aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls, ihn sollte man wohl den Erlöser der Kunst nennen. Erlösung«, fuhr er mit einem nervösen Achselzucken fort, »ein romantisches Wort; und ein Harmoniker-Wort, das Handlungswort für die Kadenz-Seligkeit der harmonischen Musik. Ist es nicht komisch, daß die Musik sich {469} eine Zeitlang als ein Erlösungsmittel empfand, während sie doch selbst, wie alle Kunst, der Erlösung bedarf, nämlich aus einer feierlichen Isolierung, die die Frucht der Kultur-Emanzipation, der Erhebung der Kultur zum Religionsersatz war, – aus dem Alleinsein mit einer Bildungselite, ›Publikum‹ genannt, die es bald nicht mehr geben wird, die es schon nicht mehr gibt, so daß also die Kunst bald völlig allein, zum Absterben allein sein wird, es sei denn, sie fände den Weg zum ›Volk‹, das heißt, um es unromantisch zu sagen: zu den Menschen?«
Er hatte das in einem Zuge gesagt und gefragt, mit halber Stimme und konversationell, aber mit einem verborgenen Beben im Ton, das man erst recht verstand, als er vollendete:
»Die ganze Lebensstimmung der Kunst, glauben Sie mir, wird sich ändern, und zwar ins Heiter-Bescheidenere, – es ist unvermeidlich, und es ist ein Glück. Viel melancholische Ambition wird von ihr abfallen und eine neue Unschuld, ja Harmlosigkeit ihr Teil sein. Die Zukunft wird in ihr, sie selbst wird wieder in sich die Dienerin sehen an einer Gemeinschaft, die weit mehr als ›Bildung‹ umfassen und Kultur nicht haben, vielleicht aber eine sein wird. Wir stellen es uns nur mit Mühe vor, und doch wird es das geben und wird das Natürliche sein: eine Kunst ohne Leiden, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig-zutraulich, eine Kunst mit der Menschheit auf Du und Du …«
Er brach ab, und wir alle drei schwiegen erschüttert. Es ist schmerzlich und herzerhebend zugleich, die Einsamkeit von der Gemeinschaft, die Unnahbarkeit vom Zutrauen reden zu hören. Bei aller Rührung war ich in tiefster Seele unzufrieden mit seiner Äußerung, geradezu unzufrieden mit ihm. Was er gesagt hatte, paßte nicht zu ihm, zu seinem Stolz, seinem Hochmut, wenn man will, den ich liebte, und auf den die Kunst ein Anrecht hat. Kunst ist Geist, und der Geist braucht sich {470} ganz und gar nicht auf die Gesellschaft, die Gemeinschaft verpflichtet zu fühlen, – er darf es nicht, meiner Meinung nach, um seiner Freiheit, seines Adels willen. Eine Kunst, die »ins Volk geht«, die Bedürfnisse der Menge, des kleinen Mannes, des Banausentums zu den ihren macht, gerät ins Elend, und es ihr zur Pflicht zu machen, etwa von Staates wegen; nur eine Kunst zuzulassen, die der kleine Mann versteht,
ist
schlimmstes Banausentum, und der Mord des Geistes.
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