Doktor Faustus
Studierstube, seinem Sammetstuhl, als daß er den Gedanken zugelassen hätte, dies alles auch nur für vier Wochen gegen die Greuel eines Badeort-Daseins mit Table d'hôte, Promenade und Kurmusik einzutauschen. Vor allem schützte er Rücksichtnahme vor auf Frau Schweigestill, die er nicht zu kränken wünsche, indem er irgendeine auswärtige Allerweltspflege der ihren vorzog, – da er sich doch in dieser, in dem Verständnis, der gelassenen, menschlich-kundigen Fürsorge der Mutter weitaus am besten aufgehoben fühle. Wirklich konnte man fragen, wo er es haben würde, wie bei ihr, die ihm jetzt, neuester Empfehlung gemäß, alle vier Stunden zu essen brachte: um 8 Uhr ein Ei, Kakao und Zwieback, um 12 Uhr ein kleines Beefsteak oder ein Kotelett, um 4 Uhr Suppe, Fleisch und etwas Gemüse, um 8 Uhr kalten Braten und Tee. Dieses Regime war wohltätig. Es hielt die Verdauungsfieber großer Mahlzeiten hintan.
Die Nackedey und Kunigunde Rosenstiel sprachen abwechselnd in Pfeiffering vor. Sie brachten Blumen, Eingemachtes, Pfefferminz-Dragees oder was sonst der herrschende Mangel gewährte. Nicht immer, ja selten nur wurden sie vorgelassen, was keine von beiden beirrte. Kunigunde entschädigte sich im Falle der Ablehnung durch besonders wohlgesetzte, in reinstem und würdigstem Deutsch abgefaßte Briefe. Diesen Trost hatte die Nackedey freilich nicht.
Gern wußte ich Rüdiger Schildknapp, den Gleichäugigen, bei unserem Freunde. Seine Gegenwart wirkte so beruhigend, so erheiternd auf ihn, – wenn sie ihm nur öfter gewährt gewesen wäre! Aber Adrians Krankheit war einer der Ernstfälle, die Rüdigers Gefälligkeit lahmzulegen pflegten, – wir wissen ja, daß das Gefühl seiner dringenden Erwünschtheit ihn störrig machte und mit sich kargen ließ. An Entschuldigungen, will sagen an Möglichkeiten zur Rationalisierung dieser eigentüm {503} lichen seelischen Anlage fehlte es ihm nicht: Eingespannt in seinen literarischen Broterwerb, diese Übersetzungsplage, war er wirklich schwer abkömmlich, und außerdem litt seine eigene Gesundheit unter den schlechten Ernährungsverhältnissen; häufigere Darmkatarrhe suchten ihn heim, und wenn er in Pfeiffering erschien – denn immerhin, er kam das eine und andere Mal – so trug er eine flanellene Leibbinde, auch wohl sogar einen feuchten Wickel mit Guttapercha-Bedeckung, – eine Quelle bitterlicher Komik und angelsächsischer jokes für ihn und der Belustigung denn auch für Adrian, der sich mit niemandem so gut über die Quälereien des Körpers in die Freiheit des Scherzes, des Gelächters erheben konnte, wie mit Rüdiger.
Auch die Senatorin Rodde kam, versteht sich, von Zeit zu Zeit aus ihrer mit bürgerlichen Möbeln überfüllten Zuflucht herüber, um sich bei Frau Schweigestill nach Adrians Befinden zu erkundigen, wenn sie ihn selbst schon nicht sehen konnte. Empfing er sie, oder trafen sie im Freien zusammen, so erzählte sie ihm von ihren Töchtern, indem sie beim Lachen die Lippen über einer Lücke in ihren Vorderzähnen geschlossen hielt; denn auch hier, außer mit den Stirnhaaren, gab es nun Kümmernisse, die sie die Menschen fliehen ließen. Clarissa, berichtete sie, liebte sehr ihren künstlerischen Beruf und ließ sich die Freude an seiner Ausübung nicht mindern durch eine gewisse Kälte des Publikums, Mäkeleien der Kritik und die freche Grausamkeit dieses und jenes Spielleiters, der ihr die Stimmung zu verderben suchte, indem er ihr aus der Kulisse »Tempo, Tempo!« zurief, wenn sie eine Soloszene mit Genuß auszuspielen im Begriffe war. Ihr Anfangs-Engagement in Celle war abgelaufen, und das nächste hatte sie nicht eben höher hinauf geführt: sie spielte nun jugendliche Liebhaberinnen in dem fernen ostpreußischen Elbing, hatte aber Aussicht auf eine Verpflichtung ins westliche Reich, nämlich nach Pforzheim, von {504} wo ja der Sprung auf die Bühnen von Karlsruhe oder Stuttgart am Ende nicht weit war. Worauf es bei dieser Laufbahn ankam, war, nicht in der Provinz stecken zu bleiben, sondern beizeiten an einem großen Landestheater oder an einer hauptstädtischen Privatbühne von geistiger Bedeutung Fuß zu fassen. Clarissa hoffte, sich durchzusetzen. Aber aus ihren Briefen, wenigstens aus denen an ihre Schwester, ging hervor, daß ihre Erfolge mehr persönlicher, das heißt: erotischer, als künstlerischer Natur waren. Zahlreich waren die Nachstellungen, denen sie sich ausgesetzt sah, und die mit spöttischer Kälte zurückzuweisen einen Teil
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