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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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ist der bei herannahender Niederlage schon fortgeschrittene und mit ihr sich vollendende Autoritätsverlust des monarchischen Militärstaates, der so lange unsere Lebensform und -Gewohnheit gewesen war, sein Zusammenbruch, seine Abdankung und der bei fortdauerndem Darben, fortschreitendem Währungsverfall sich ergebende Zustand diskursiver Lockerung und spekulativer Freiheit, eine gewisse klägliche und unverdiente Ermächtigung zu bürgerlicher Selbständigkeit, die Auflösung eines so lange disziplinär gebundenen Staatsgefüges in debattierende Haufen herrenlos gewordener Untertanen. Ein so recht wohltuender Anblick ist das nicht, und kein Abzug ist zu machen von dem Worte »peinlich«, wenn ich die Eindrücke kennzeichnen soll, die ich bei den Versammlungen gewisser, damals ins Leben tretender »Räte geistiger Arbeiter« etc. in Münchener Hotelsälen als rein passiver und beobachtender Teilnehmer gewann. Wäre ich ein Romanerzähler, ich wollte dem Leser eine solche Sitzung, bei der etwa ein belletristischer Schriftsteller, nicht ohne Anmut, sogar auf sybaritische und grübchenhafte Weise über das Thema »Revolution und Menschenliebe« sprach und damit eine freie, allzu freie, diffuse und konfuse, von den ausgefallensten, nur bei solchen Gelegenheiten einen Augenblick ans Licht tretenden Typen, Hanswürsten, Maniaks, Gespenstern, boshaften Quertreibern und Winkelphilosophen getragene Diskussion entfesselte – ich wollte, sage ich, eine solche hilf- und heillose Ratsversammlung aus qualvoller Erinnerung wohl plastisch {496} schildern. Da gab es Reden für und gegen die Menschenliebe, für und gegen die Offiziere, für und gegen das Volk. Ein kleines Mädchen sagte ein Gedicht; ein Feldgrauer wurde mühsam daran gehindert, mit der Verlesung eines Manuskriptes fortzufahren, das mit der Anrede »Liebe Bürger und Bürgerinnen!« begann und zweifellos die ganze Nacht in Anspruch genommen haben würde; ein böser Kandidat ging mit sämtlichen Vorrednern in ein unerbittliches Gericht, ohne die Versammlung einer eigenen positiven Meinungsäußerung zu würdigen – und so fort. Das Benehmen der in plumpen Zwischenrufen sich gefallenden Zuhörerschaft war turbulent, kindisch und verroht, die Leitung unfähig, die Luft fürchterlich und das Ergebnis weniger als Null. Umherblickend fragte man sich wiederholt, ob man denn der einzige sei, der litt, und war am Ende froh, die offene Straße zu gewinnen, wo schon seit Stunden der Tram-Verkehr eingestellt war und irgendwelche wahrscheinlich sinnlosen Schüsse die Winternacht durchhallten.
    Leverkühn, dem ich von diesen Eindrücken berichtete, war außerordentlich leidend damals, – krank auf eine Weise, die etwas von erniedrigender Quälerei, einem Gezwackt- und Geplagtwerden mit glühenden Zangen hatte, ohne daß man etwa unmittelbar für sein Leben hätte fürchten müssen, welches aber auf einen Tiefpunkt gelangt zu sein schien, dergestalt, daß er es, aus einem Tage sich in den anderen schleppend, nur gerade fristete. Es war ein, auch durch strengste Diät nicht zu bändigendes Magenübel, das ihn ergriffen hatte, mit heftigsten Kopfschmerzen auftretend, mehrtägig und in wenigen Tagen wiederkehrend, mit stunden-, ja tagelangen Erbrechungen dazu bei leerem Magen, ein wahres Elend, unwürdig, chikanös und erniedrigend, in tiefe Ermattung bei andauernd großer Lichtempfindlichkeit ausgehend, wenn ein Anfall vorüber war. Keine Rede davon, daß das Leiden etwa auf seelische Ursachen, auf die torturierenden Erfahrungen der Zeit, die Niederlage des {497} Landes und ihre wüsten Begleitumstände zurückzuführen gewesen wäre. In seiner klösterlich-ländlichen Abgeschiedenheit, fern der Stadt, berührten diese Dinge ihn kaum, über die er immerhin, zwar nicht durch Zeitungen, die er nicht las, aber durch seine so teilnehmende wie gelassene Pflegerin, Frau Else Schweigestill, auf dem laufenden gehalten wurde. Die Ereignisse, die ja für den Einsichtigen nicht als jäher Chock, sondern als die Erfüllung von etwas längst Erwartetem kamen, vermochten ihn kaum zu einem Achselzucken, und meinen Versuchen, dem Unheil das Gute abzugewinnen, das es etwa bergen mochte, begegnete er nicht anders, als verwandten Expektorationen, in denen ich mich zu Anfang des Krieges ergangen, – wobei ich an das kalt ungläubige »Gott segne eure studia!« denke, womit er mir damals geantwortet.
    Und dennoch! So wenig es möglich war, das Absinken seiner Gesundheit mit dem vaterländischen

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